Die Masochistin auf der Couch

Jenny Diski - Küsse und Schläger   cover: Klett CottaAls Klassiker der erotischen Literatur bewirbt der Verlag das Buch Küsse & Schläge der englischen Autorin Jenny Diski aus dem Jahr 1986. Da tauchen vor dem geistigen Auge Namen wie Leopold v. Sacher-Masoch, Henry Miller und Anaïs Nin auf. Doch anders als deren Helden führt Diskis Rachel ein Leben, das sich nicht allein zwischen Bett und Bücherwand abspielt. Hier wird weniger geküsst und geschlagen als getrauert und gekämpft.

Von STEPHANIE HEIMGARTNER

Alles beginnt an einem sonnigen Morgen. Die hübsche Mittdreißigerin Rachel lebt allein mit ihrer siebenjährigen Tochter, um die Ecke wohnt deren Vater, der das Kind übers Wochenende und auch sonst mal nimmt. Rachel genießt das Alleinleben, doch ihre Freundin Molly will sie unbedingt verkuppeln, dieses Mal mit Joshua. Joshua ist ungefähr fünfzig, hat einen Bauch und viele Haare. Er ist ein großer Charmeur und äußerst intelligent. Also führen Rachel und er ein gepflegtes Gespräch und essen brav auf, bevor sie tun, was Molly von ihnen erwartet, und zusammen nach Hause gehen.

Dort geschieht, weshalb sich der Verlag entschieden hat, das Buch nach 25 Jahren nun wieder aufzulegen: kein harmloser Blümchensex, sondern etwas, was Felicitas von Lovenberg in der FAZ zu der Bemerkung veranlasst hat, Shades of Grey nehme sich gegen Frau Diskis Buch aus „wie ein verfilzter Wischmopp neben einem Kaschmirplaid“. Diese erotischen Gelegenheiten ergeben sich zwei- oder dreimal, zumindest wird der Leser dabei nur zwei- oder dreimal zugelassen, und häufiger finden sie ohne ihn statt: Es wird vermerkt, Joshua ereile Rachel über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren hinweg etwa alle 14 Tage.

Nachdem der Leserin und auch Rachel klar ist, dass sie weder eine „Beziehung“ zu Joshua hat noch eine eingehen will, aber dem Mann und seinen perfektionierten Sexualtechniken auf unabsehbare Zeit erlegen ist, wendet sich das Buch anderen Themen zu. Rachel, die in einem sehr entspannt wirkenden Rhythmus als eine Art Förderlehrerin für hoffnungslose Fälle arbeitet, unterrichtet den mutterseeleneinsamen, halbwüchsigen Pete. Es stellt sich heraus, dass Pete als Gegenfigur zu Rachel selbst fungiert, deren furchterregende Kindheit und Jugend im Folgenden ausführlich erzählt werden. Gegenfigur, weil Rachel im Unterschied zu Pete Glück hatte: Fast in letzter Minute wurde sie nicht von irgendwem, sondern von einer idealistischen Hochschullehrerin adoptiert – hinter dieser Geschichte verbirgt sich wohl Diskis eigene samt ihrer Adoptivmutter Doris Lessing. Anders als Isobel, die sie damals aufnahm, fühlt sich Rachel aber nicht dazu imstande, Pete ein Zuhause zu bieten, obwohl sie seine einzige Hoffnung wäre. Und anders als Rachel schafft es Pete nicht, die Schule abzuschließen und sich sozial einigermaßen zu integrieren, sondern begeht Selbstmord. Daraufhin rutscht Rachel in eine tiefe Depression ab. Vermutlich war es Mitte der Achtziger nicht ohne, eine halbwegs deftige Sado-Maso-Szene zu schreiben und sie dann auch zu veröffentlichen – gegen die Beschreibung dieser Depression nimmt sich Rachels Sex mit Joshua aber geradezu idyllisch aus. Vor allem ist er um Längen weniger spannend. Als Rachel depressiv wird, zeigt Diski, was sie kann: Hier schreibt jemand, der von der Sache was versteht.

Wenig nackte Haut, viel nackte Seele

Aber obwohl die Geschichte um Pete anrührend und die psychische Verfassung der Protagonistin dicht beschrieben ist: An der Art, wie hier Sozialkritik geübt wird, und dem Raum, den Rachels psychologische Anamnese einnimmt, merkt man dem Buch doch auch sein Alter an. Aus der realistischen englischen Erzähltradition der Working-Class-Romane kommend, ist die hoffnungslose Geschichte um den Underdog Pete absolut zwangsläufig; und seit Sylvia Plath und Ken Kesey sind wir es gewohnt, dass in Romanen nicht nur psychologische Innenschau betrieben, sondern auch die manifeste seelische Krankheit ausführlich behandelt wird. Die self-absorption der Protagonistin, das psychologisierende Herumschreiben um die Person im Verein mit der libertinären Einstellung zu Sex und Drogen verraten Diski als Kind der Sixties – nicht zufällig hat sie über dieses Jahrzehnt eigene Erinnerungen veröffentlicht.

Wie das Arrangement von Rachel und Joshua schließlich endet, soll hier verschwiegen werden. Nur so viel: Es gelingt der Autorin, das seelische Problem ihrer Heldin mit einer recht überraschenden, aber einleuchtenden, krimiartigen Wende aufzulösen.

Fazit: 1. Für einen „Klassiker der erotischen Literatur“ steht der Sex zu wenig im Mittelpunkt. Aber man kann die Szenen wenigstens lesen, ohne sich zuvor gehirnamputieren zu lassen wie bei E.L. James. 2. Wer bis heute immer noch nichts gelesen hat, das ihm eine Depression glaubhaft beschreibt, kann mit dem fünften Kapitel beginnen – es hat den unschätzbaren Vorteil, extrem viel kürzer zu sein als David Foster Wallaces Infinite Jest. (Allerdings könnte man auch Les Murrays Killing the Black Dog zur Hand nehmen.) 3. Wenn man der Autorin einen Gefallen tun wollte, würde es sich bestimmt lohnen, The Sixties zu übersetzen, das in englischen Besprechungen als unsentimental, lakonisch und selbstironisch beschrieben wird und damit alles hätte, was wir an englischer Literatur so lieben.

Jenny Diski: Küsse & Schläge
Übers. von Bettina Runge
Klett-Cotta, 362 Seiten
Preis: 19,95 €
ISBN 978-3-608-98029-5

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