Mit „Gezi“ verbindet man seit den Protesten im Mai 2013 nicht mehr ausschließlich den städtischen Park in Istanbul, der zwecks der Errichtung eines Einkaufszentrums überbaut werden soll, sondern auch die türkische Freiheits- und Demokratiebewegung. Der binooki-Verlag hat zu diesem Thema eine Anthologie mit 19 türkischen Autorinnen und Autoren auf die Beine gestellt. Herausgekommen ist dabei eine lesenswerte Zusammenstellung von Texten, in denen sich mal ernst, mal ironisch, mal polemisch, mal hoffnungsvoll dem Thema angenommen wird.
von ESRA CANPALAT
Als im Frühsommer 2013 Jung und Alt in der ganzen Türkei auf den Straßen protestierten, ging es nicht nur darum, die Empörung über den von der Regierung geplanten Abriss des Gezi-Parks im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu, der seit den späten 1940er Jahren den Istanbulern als grüne Ruhestätte inmitten des Wirrwarrs der Metropole gedient hatte, zum Ausdruck zu bringen. Es ging auch darum, zu sagen, dass es endlich reicht mit dem autoritären Regierungsstil des (damals noch) Premierministers Recep Tayyip Erdoğan und den repressiven Gesetzen der AKP, die auch nach den Ereignissen um Gezi kein Ende zu finden scheinen. So trat beispielsweise im August 2013 das Verkaufsverbot von Alkohol nach 22 Uhr in Kraft und die Meinungs- und Pressefreiheit wurde massiv eingeschränkt (man erinnere sich an den peinlichen Versuch Erdoğans, facebook und Twitter zu sperren). Dazu kommen noch solch abstruse Pläne, wie die Todesstrafe, die 2002 in der Türkei im Zuge der EU-Beitrittsbemühungen abgeschafft wurde, wieder einführen zu wollen, die seit 30 Jahren geltenden Abtreibungsgesetze zu verschärfen und jüngst die verrückte Idee, Frauen das Lachen in der Öffentlichkeit zu verbieten. Aufgrund der zunehmenden Islamisierung und Einschränkung der Persönlichkeitsrechte war es nur eine Frage der Zeit, bis das türkische Volk aufbegehrte. Und Gezi war ausschlaggebend für dieses Aufbegehren: Der Widerstand der Demonstrierenden im Park und die daraus resultierenden Solidarisierungen im ganzen Land und im Ausland angesichts der brutalen Polizeigewalt und des beinahe schon despotischen Gebaren des 2014 zum Staatspräsidenten gewählten Erdoğan, wurde zum Symbol der Protestbewegung der jungen Türkei.
Die Zeit ist reif für Literatur!
Die Ereignisse um Gezi sind jetzt fast zwei Jahre her. Nach der enthusiastischen Aufbruchsstimmung scheint nur noch Ernüchterung und Enttäuschung übrig zu sein. Oder doch nicht? Sabine Adatepe, Herausgeberin und Übersetzerin der Texte der Gezi-Anthologie, macht in ihrem Vorwort deutlich, dass gerade jetzt, nach so viel Abstand, die Zeit reif ist, über die Geschehnisse reflektiert zu schreiben. Sie zitiert in ihrem Vorwort Hakan Günday, enfant terrible der jungen türkischen Literaturszene, der sagt: „In zehn, fünfzehn Jahren wird sich das Geschehen von selbst in unseren Texten widerspiegeln. Niemand wird jemals wieder so tun können, als wäre nichts geschehen.“ Das haben die 19 Autorinnen und Autoren, die in der Anthologie versammelt sind, jetzt schon nicht getan: Auf sehr unterschiedliche Weise haben sie sich mit der Thematik auseinandergesetzt. Das weckt bereits jetzt die Hoffnung, dass in Zukunft noch mehr kritische Texte dieser Art entstehen werden und in die Literaturgeschichte der Türkei, die seit jeher durch politische Ereignisse geprägt wurde, aufgenommen werden.
Von tieftraurig bis urkomisch
Nicht nur die Grande Dame der türkischen politischen Literatur Oya Baydar, die 1980 wegen ihres Engagements in der politischen Linken aus der Türkei fliehen musste, oder die Bestsellerautorin Ayşe Kulin sind vertreten, sondern auch deren jüngere Kolleginnen und Kollegen wie der bereits erwähnte Hakan Günday oder Barış Uygur, die alle an den Gezi-Protesten beteiligt waren. Dabei variieren die Texte von einer tieftraurigen, bitterbösen zu einer urkomischen, hoffnungsbringenden Stimmung. Mal erzählt uns die Katzenliebhaberin Baydar augenzwinkernd von einer streunenden Katze, die von der Protagonistin der Erzählung liebevoll Tschapul genannt wird, abgleitet vom türkischen çapulcu (Plünderer, Marodeur), eine Bezeichnung, mit der Erdoğan versucht hatte, die Demonstrierenden zu diffamieren. Natürlich will Tschapul nicht lange bei der jungen Demonstrantin bleiben, sondern schnell wieder nach Hause: in den Gezi-Park. Mit ihrer Geschichte um ein altes, die Bäume im Gezi-Park liebendes Ehepaar bringt uns Kulin beinahe zum Weinen. Kulin zeigt, dass auch unbeteiligte, nichtsahnende Menschen, die einfach im Park spazieren gehen wollten, Opfer der Polizeigewalt geworden sind. Suzan Geridönmez hingegen zeigt die Perspektive der Gegenseite: Ein Polizist in Zivil gerät in Ausflüchte, als er seinen alten, linken Studienkumpel im Park wiedertrifft. Gaye Boralıoğlus Geschichte einer Schaufensterpuppe, die zuerst passive Beobachterin der Ereignisse ist, dann aber beschließt, endlich zum Leben zu erwachen, ist eine passende Metapher für das politische Erwachen vieler Türken während Gezi. Und natürlich bleiben satirische Reaktionen auf dieses Thema nicht aus: Günday präsentiert eine kurze Tragödie über den ersten geklonten Staatspräsidenten, der in Verzweiflung gerät, weil die Chemikalien, denen die Demonstrierenden bei den Tränengaseinsätzen ausgeliefert waren, plötzlich zu Nebenwirkungen bei diesen führen: Ihr Altern wird gestoppt, sie bleiben ewig jung und treten dem mittlerweile geklonten Staatspräsidenten erneut mit geballter Kraft entgegen. In seinem Essay Ein Slogan fehlt beschäftigt sich Barış Uygur mit der ironisierenden und kreativen Sprache der Jugendlichen während der Gezi-Proteste und macht deutlich, dass es besonders der Humor war, der diese politische Bewegung so besonders und stark machte. Diese Vielstimmigkeit der Texte ist es, die die Anthologie so lesenswert macht: Sie zeigt, auf welch unterschiedliche Weisen das Thema betrachtet werden kann. Die Krawalle in Gezi haben die Menschen in der Türkei nicht nur verärgert, fassungslos und traurig gemacht, sondern haben ihnen auch Hoffnung gegeben.
Der Tenor der meisten Erzählungen, Gedichte und Essays ist jedoch gleich: Das, was geschehen ist, wird niemals vergessen werden, auch wenn die Bewegung brutal von der Staatsgewalt zerschlagen wurde. Aber wurde sie das überhaupt? Das wird sich in Zukunft zeigen, denn der von der AKP dominierte Istanbuler Stadtrat hat, trotz eines Gerichtsurteils, das den Bau untersagt hatte, eine bis 2019 reichende Bauplanung angenommen. Dass die Istanbuler dies weiterhin nicht hinnehmen werden, dürfte klar sein: Bereits im Mai des letzten Jahres kam es zum Jahrestag der landesweiten Proteste wieder zu Protestaktionen auf dem Taksim-Platz. Burhan Sönmez bringt es auf den Punkt: „Gegen die Finsternis in diesem Land strahlen nun überall Sterne.“
Sehr spannend! Ich hatte immer vor mich etwas eingehender mit türkischen Autoren zu befassen um meine Ahnungslosigkeit auf diesem Gebiet etwas zu verkleinern – diese Sammlung nehme ich jetzt mal als Einstieg. Danke.