Was ist Leid? Ist Leid universell? Wie leidet ein Individuum im Angesicht eines unbegreiflichen Ereignisses? Ist Leid vergleichbar? Wie weit darf das persönliche Leiden gehen? Ist geteiltes Leid wirklich halbes Leid oder nicht eher doppeltes? In den Kammerspielen des Schauspielhauses Bochum wirft Lot Vekemansʼ Zwei-Personen-Drama Gift. Eine Ehegeschichte in der Inszenierung von Heike M. Götze mit Bettina Engelhardt und Dietmar Bär Fragen nach Leid und Leiden auf. Ein Abend, der an die Nieren geht.
von SYLVIA KOKOT
Eine Bühne (Ricarda Beilharz), der Boden und die Wände ganz mit weißem Tuch ausgelegt und verhängt, so dass es viele an Christos verhüllten Reichstag erinnern mag, nur dass hier der Innenraum von einem verpackten Außen eingefasst wird. Darauf ein Paar, ER (Dietmar Bär) und SIE (Bettina Engelhardt). Entfernt voneinander agieren sie auf diesem weißen Linnen, das alles andere als unbefleckt und unbeschrieben ist. Denn sie haben ein Kind verloren. Sie sind „[e]in Mann und eine Frau. […] Die erst ein Kind verloren haben, dann sich selbst und dann einander“.
Weiß, die brutalste (Nicht-)Farbe
Die Bühne, in ihrem Weiß, in dieser Unbeschriebenheit, verweigert den Kontext, sie verweigert Bezüge, ein weißer Raum, der dem Zuschauer keine Möglichkeit gibt, sich an einem Außen festzuhalten. Auch er ist dem Spiel, dem unaussprechbaren unbegreiflichen Leid von ihr und ihm schutzlos ausgeliefert.
Puristisch könnte man dieses Bühnenbild nennen – Tiefe, Dimensionalität, Raum werden durch lediglich drei verschiedene Beleuchtungsszenarien generiert. Einmal verschwimmt der Raum im Nebel, der sich erst mit einsetzendem Regen zumindest teilweise verflüchtigt, und markiert hier den Rollenwechsel, denn plötzlich (ganz anders als in der Vorlage) beginnt das Stück von vorn, spricht und spielt sie ihn und er sie. Schlussendlich, so scheint hier die Interpretation, ist die Ausprägung des Leides keines, das an Geschlechter gekoppelt ist. Es gibt kein typisch weibliches, kein typisch männliches Leid. Aber auch austauschbar ist es nicht: Obwohl er und sie den gleichen Text sprechen, schaffen es Engelhardt und Bär, sich die Worte jeweils auf ihre eigene Weise anzueignen und zu etwas ganz Persönlichem zu machen. Leid ist individuell, Leid ist nie gleich, Leid ist ungerecht und vielleicht ist es niemals möglich, das Leid des anderen zu verstehen: „Ich verstehe dich nicht / Du verstehst mich nicht / Und anscheinend ist das immer noch das Wichtigste in unserem Leben / Einander verstehen / Und wenn das nicht geht / Dann ist halt Schluss“.
Verpackt ist sie, die Erinnerung an ein noch lebendes Kind, und wird fast manisch von ihr hervorgewühlt: Spielzeug, ein kleines Bett, ein Kinderwagen, Topoi einer nie versiegenden Erinnerung an etwas, dessen Fehlen unausweichlich ausgestellt wird. Ihr Kopf ist voll von Dingen, die sie nicht vergessen kann oder vielmehr „[n]icht vergessen darf“. Sie (nach dem Rollenwechsel: er) kann und will nicht loslassen, sie (er) braucht das Leiden wie die Luft zum Atmen, es ist zu einem Lebenszweck geworden und zugleich etwas, das sie (ihn) zerstört. Er (sie) hingegen versucht, die Leerstelle seines (ihres) Sohnes mit Sinn zu versehen, ihr „einen Platz“ zu geben und es handhabbar zu machen. Er (sie) lebt trotz des Leides, das er (sie) erfahren hat. Und er (sie) glaubt daran, dass auch das Glück wieder möglich sein wird.
Mitgenommen durch das (Nicht-)Spiel
So direkt und unvermittelt dieses Stück in seiner Inszenierung daherzukommen scheint, so sehr ist auch die schauspielerische Leistung hervorzuheben. Bettina Engelhardt schafft es, ihr ganzes schauspielerisches Können aufs Tableau zu bringen. Verzweiflung und Wut, Trauer und Zynismus werden auf der Bühne greifbar, fast spürbar, wenn sie spricht, flüstert, schreit, verlacht und am Ende in Erinnerung ihren sterbenden Sohn in den Armen wiegt. Oft sind es nur kleine Nuancen, die einen Wechsel der Stimmung heraufbeschwören.
Dietmar Bär, mehr im Hintergrund, vor allem stimmlich präsent, wenn er im Nebel unsichtbar fast aus dem Off spricht, bietet selbst eine Art Bühne für Engelhardts Spiel – eine Bühne, von der sie abprallt oder die sie trifft. Auch bei ihm sind es die modulierten Zwischentöne, die es bewerkstelligen, das unvorstellbare Leid, die Qual und die Hilflosigkeit fühlbar zu machen. Eine Reduzierung der Inszenierung auf die Leistung Dietmar Bärs, wie in der DPA-Meldung zu lesen ist, erfasst hingegen bei Weitem nicht die Stärke und das Potenzial des hier gezeigten Zusammenspiels zwischen Engelhardt und Bär.
Der Abend endete mit lang anhaltendem Applaus, stehenden Ovationen und sichtlich berührten und erschöpften Zuschauern und Schauspielern. Gift. Eine Ehegeschichte in der Inszenierung am Schauspielhaus Bochum muss man erst einmal aushalten können, es tritt zu nahe, ergreift und greift an, ohne dabei in sentimentale Klischees abzurutschen.
es war eine wunderbar und gute essay
Viel erfolg