In ihren Poetikvorlesungen Nicht sterben legt Terézia Mora minutiös Rechenschaft ab über die eigene Biografie als Autorin und gibt zahlreiche Hinweise für junge Kollegen.
von STEPHANIE HEIMGARTNER
Der Leser ist von Natur aus Komparatist, wurde mir wieder einmal klar, als ich, zunehmend ratlos, die Poetikvorlesungen der im Jahr 2013 für den Roman Ungeheuer buchpreisgekrönten Terézia Mora las und dann nur noch zu lesen vorgab: Man kann einfach nicht umhin, das Buch, das gerade vor einem liegt, mit anderen, ähnlichen zu vergleichen.
Das erhabene Genre der Poetikvorlesung
Seit Jahrzehnten finden die Poetikvorlesungen an der Universität Frankfurt so sicher statt wie das Wintersemester, seit Mitte der Achtzigerjahre gbt es immer zahlreicher werdende Nachahmungsveranstaltungen an anderen Universitäten. Das Konzept, Schriftsteller in der Öffentlichkeit Rechenschaft ablegen zu lassen über ihr Tun, scheint sich für Universitäten wie Autoren (und möglicherweise auch für das außeruniversitäre Publikum, das wäre interessant zu wissen) bewährt zu haben.
In Frankfurt begann man zunächst damit, den Literaten schwergewichtige Themen vorzugeben, sie sollten „Fragen zeitgenössischer Dichtung“ klären (Ingeborg Bachmann, die die Reihe der Beiträger eröffnete, bekam diese Aufgabe 1959/60 zugeteilt, ebenso wie Karl Krolow ein Jahr später), Marie Luise Kaschnitz sprach 1960 über „Gestalten der europäischen Dichtung von Shakespeare bis Beckett“, Helmut Heißenbüttel 1963 über „Grundbegriffe einer Poetik im 20. Jahrhundert“. Die Themen waren staatstragender, akademischer, kaum aber pompöser als heute: Terézia Moras Vorlesungen von 2013/14, jetzt als Buch erschienen, tragen den Titel Nicht sterben.
Schön wär’s, denkt die Leserin beim Anblick des Buchumschlags, und dann erinnert sie sich natürlich an Scheherazade und begreift: Auch heutzutage geht es, wenn ein Roman geschrieben wird, nicht darum, dass die Autorin Geld für die Miete verdient oder darum, dass sie lieber das tut, was ihr Spaß macht, nämlich schreiben, als einem langweiligen Brotberuf nachzugehen. Sondern es geht um nichts Geringeres als um Leben und Tod.
„Für den Schriftsteller gibt es nämlich vor allem Fragen, die scheinbar außerhalb der literarischen liegen […] Es sind zerstörerische, fruchtbare Fragen in ihrer Einfachheit, und wo sie nicht aufgekommen sind, ist auch nichts aufgekommen in einem Werk.“*
Wie man das erste Buch schreibt
Was für Fragen müssen also bedacht werden, wenn es darum geht, nicht zu sterben? Für Mora in erster Linie die, „wie man zum ersten Buch oder zum ersten Roman kommt“.
Es verspüren ja unzählige junge Menschen auf der Welt in sich den Drang zu schreiben. Ihre Zahl deckt sich in unserer Zeit nahezu mit derjenigen der Leser. (Ein Phänomen, das es übrigens auch auf dem Theater gibt: Nur noch diejenigen Jungen gehen ins Theater, die es auch für ihre Berufung halten, dort zu arbeiten – wieso war man früher mit seiner Rolle als Leser oder Zuschauer, als stiller Teilhaber eben, vollkommen zufrieden? Was ist geschehen, dass Teilhabe nicht reicht?) Mit genau dieser Frage „Wie komme ich zum ersten Buch?“ treten all diese jungen Schreiber an Dozenten wie Mora, an Schreibcoaches, Redakteure, Lektoren heran. Doch es geht um noch mehr beim ersten Buch. Seine Aufgabe soll es sein, so Mora, eine neue Geschichte zu erzählen, die die Sicht auf das Leben von Grund auf verwandelt. Spätestens hier beschleicht einen der Verdacht, dass die erste Aufgabe, überhaupt einen Text zu verfassen, möglicherweise nur schwer mit der zweiten vereinbar ist. Denn kann wirklich jeder Autor ein Buch schreiben, das die Sicht auf das Leben verändert? Für sich selbst: ja. Für alle anderen oder auch nur für viele: nein. Wenn man nicht Romane nach dem Credo Hollywoods abfassen will, das da lautet: Der Einzelne gibt sich sein Gesetz für die Welt, und er setzt es gegen alle Widerstände durch. (Nicht umsonst ist das Beispiel, das Mora wählt, um die notwendige Veränderung der Weltsicht zu erläutern, der amerikanische Animationsfilm Croods, nicht 1001 Nacht.) Aber diese Hollywood-Perspektive ist uns wohlbekannt, und die meisten von uns sind ihrer überdrüssig: „Das Denken, der Zeit verhaftet, verfällt auch wieder der Zeit. Aber weil es verfällt, eben deshalb muß unser Denken neu sein, wenn es echt sein und etwas bewirken will.“*
Utopie oder Nabelschau?
Was will man also bewirken, wenn man eine nicht mehr ganz junge Schriftstellerin ist und Poetikvorlesungen hält?
„Von einem notwendigen Antrieb, den ich vorläufig nicht anders als einen moralischen vor aller Moral zu identifizieren weiß, ist gesprochen worden, einer Stoßkraft für ein Denken, das zuerst noch nicht um Richtung besorgt ist, einem Denken, das Erkenntnis will und mit der Sprache und durch Sprache hindurch etwas erreichen will. Nennen wir es vorläufig: Realität.“*
Nein, so hört sich das heute nicht mehr an. Heute sollen sich nach Mora junge Autoren fragen: „Bist du handlungsfähig im Zusammenhang mit einem Text?“
Im Kontrast mit den oben zitierten Äußerungen Ingeborg Bachmanns aus der allerersten Frankfurter Poetikvorlesung, die ja alles andere als politische Kampfansagen sind, frappiert es, wie sehr sich das Denken von Mora auf sich selbst und möglicherweise noch auf die ihr Anbefohlenen (ihre Tochter, ihre Studenten) zurückzieht: Es geht darum, wie man die eigene Wunde bespricht; wie man genau beschreibt; wie man glaubwürdige Figuren schafft. In unerbittlicher Ausführlichkeit erzählt sie die Geschichte von der Urszene ihrer ersten Erzählung bis zum letzten Roman nach. Welche Fragen sie bewegten. Wie lange sie brauchte. Welche technischen Kniffe sie sich nach und nach aneignete. Wie sie das erste Mal einen Text über Folter schrieb und es nun nicht schafft, ihn öffentlich vorzulesen. Sie wechselt dabei regelmäßig die Perspektive und changiert zwischen „Ich“ und „Du“, wobei nicht ganz klar ist, ob sie die Anweisungen sich selbst oder den unter ihr Lernenden erteilt. Nach nicht allzu langer Zeit fühlt man sich in einen Seminarraum versetzt, in dem eine der zahllosen Veranstaltungen zum Kreativen Schreiben stattfindet. Gepriesen seien sie – sie haben die amerikanische Gegenwartsliteratur (auf hohem Niveau!) standardisiert, sodass man selten auf ein wirklich schlechtes Buch trifft. Dafür sind viele Romane nahezu umstandslos gegeneinander austauschbar. Gepriesen seien sie nochmals – sie alimentieren im englischsprachigen Raum Kohorten von Autoren, die von den Produkten der eigenen Tastatur nicht leben könnten. Und produzieren Legionen ebensolcher Menschen. Seit geraumer Zeit auch hierzulande: Zunächst als Maßnahme für die gruppenweise Bewältigung von Lebensunebenheiten erfolgreich eingesetzt, greifen sie mittlerweile auch im universitären Rahmen immer mehr um sich. Und jetzt kriegen wir den Kreativ-Schreiben-Kurs auch noch als Poetikvorlesung.
Literatur könnte etwas sein wie das „Utopia der Kultur zum Glück“, etwas, das „zurückwirken muß in den ungeistigen Raum unserer traurigen Länder“, etwas, das im Benjaminschen Sinne wirkt „auf diese eine Sprache hin, die noch nie regiert hat, die aber unsere Ahnung regiert und die wir nachahmen“, behauptet Ingeborg Bachmann emphatisch in ihrer letzten Frankfurter Vorlesung.
Auch Terézia Mora ist beileibe nicht geschichtslos (sie erwähnt mehrfach ihre Herkunft aus dem repressiven kommunistischen System der Siebzigerjahre in Ungarn), auch nicht ahnenlos (man ist ihr dankbar, dass sie in Deutschland relativ wenig gelesene ungarische Autoren wie Ágnes Nemes Nagy, János Pilinszky, László Németh nennt), aber vor allen Dingen zitiert sie sich selbst, spricht über ihre eigenen Erlebnisse und Schreibpraktiken. Und befindet sich am Ende wieder im „,Dazwischen‘ zwischen zwei Büchern“. Aus ihrem eigenen Kreis bricht sie nicht aus. Man kann von ihr erfahren, wie ihre Bücher genau entstanden sind. Aber zu einer Poetik formieren sich diese Berichte nicht.
Terézia Mora: Nicht sterben. Frankfurter Poetik-Vorlesungen.
Luchterhand, 160 Seiten
Preis: 18,99 Euro
ISBN: 978-3-630-87451-7
* aus:
Ingeborg Bachmann: Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung.
Piper, 128 Seiten
Preis: 8,95 Euro
ISBN: 978-3-492-27203-2