Regisseur Simon Solberg bringt Argonauten auf die Bühne des Schauspiels Köln. Seine (antiken) Helden werden von sechs Studierenden der Leipziger Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelsson Bartholdy“ dargestellt, die am neuen Kölner Schauspielstudio die Sage um Jason und seine Suche nach dem Goldenen Vlies mit viel Dynamik und teilweise überforderndem Medieneinsatz ins 21. Jahrhundert transportieren.
von ANNIKA MEYER
Wie war das noch mit den Argonauten? Jason sticht auf Befehl seines Onkels Pelias mit seinen heldenhaften Gefährten und der Argo in See, um das Goldene Vlies zu holen. Auf ihrer Reise durchleben sie Gefahren und Abenteuer und begegnen friedlichen und feindlichen Völkern, bis sie schließlich in Kolchis scheinbar das Ziel ihrer Reise erreicht haben. Doch wie sieht es aus, wenn sich in unserer Zeit Menschen auf die Reise machen, um nach einem besseren Leben zu suchen Jason (Janis Kuhnt) begibt sich mit fünf Mitstreitern auf den gefährlichen Trip um sich und sein Volk von Peliasʼ Schreckensherrschaft – einer Angstgesellschaft mit Burnout, Arbeitslethargie, geistiger Gefangenschaft und Unterdrückung – zu befreien. Denn das hat Jason gelernt und für alle sichtbar an die Wand geschrieben: „Vlies –> Glück“. Und so verwandeln die Helden ihre einstigen Lagerbetten in die Argo und brechen mit dem „Wind of Change“ zu neuen Ufern auf. Dabei gelangen sie u. a. nach Lemnos, wo die Ehegatten mordenden Frauen in einer Art Peepshow die Argonauten beglücken, bevor ihnen das mordlüsterne Treiben auffällt. Im Reich der Bebryker wird der feindlich gesinnte rappende König Amykos (Justus Maier) von Atalante (Lena Geyer) in einem mit Nintendo-Musik untermalten Zeitlupen-Wrestlingkampf besiegt und Hylas (Nicolas Streit) setzt sich bei den Sirenen nach einer Technoparty einen Schuss und wird von seinen Gefährten getrennt.
Antike reloaded
Was nach einem passenden Abbild unserer heutigen Vergnügungsgesellschaft aussieht, hat zudem auch hochaktuelle, brisante Züge: Der Seher Phineus (Lou Strenger), eine Art antiker Edward Snowden, muss vor den mit Neonröhrenflügeln ausgestatteten Harpyien (u. a. Henriette Nagel) gerettet werden, und Prometheus, Goethes gleichnamiges Gedicht rezitierend, wird nicht von einem Adler angegriffen, sondern von laut tosenden Drohnen. Denn auch das verdeutlicht die Argonautensage der Gegenwart: Während Jason und Co. ihre heimatlichen Gefilde hinter sich lassen, kämpfen Flüchtlinge an Land und im Wasser darum, in die „Festung Europa“ zu gelangen, um vor Kriegen und Gewalt zu fliehen und um die Chance auf eine sichere, glückliche Zukunft zu haben. Und auch wenn die Reise der Protagonisten zuletzt, anders als in der antiken Sage, nicht das erhoffte Vlies und die damit verbundene Freiheit bringt, gibt es doch Hoffnung: Die Argonauten beschließen, untermalt von Radioheads Last Flowers auf der „Argo 2.0 extra-large“ weiterzuziehen und sowohl die Reise als auch die Vorstellung enden etwas abrupt mit dem Video-Aufruf des Kölner Pfarrers Hans Mörtter zu mehr Menschsein und Hilfe für unsere kriegsverfolgten Mitbrüder.
Drastische Bilder und Reizüberflutung
Durch stetig wechselnde Erzählinstanzen sind die Verbindungen von griechischer Sage zu heutigen Geschehnissen, von Erzähltem zu Gespieltem dynamisch und erhellend. Antike Textpassagen werden durch moderne Schlagworte und eine teilweise konträre Bühnenhandlung umgedeutet und mit gegenwärtigen Sujets aufgeladen. Videoprojektionen (Video: Joscha Sliwinski) zeigen auf zwei Leinwänden und der Rückwand des Theaterraums thematisch passende Bilder von Drohnenangriffen, Flüchtlingen in Rettungsbooten und Kriegsverletzten oder Aufnahmen von der Reise der Kölner Schauspielgruppe zu den Flüchtlingslagern Nordafrikas. Von den Schauspielern gesprochene Kriegsflüchtlingsberichte und abgefilmte Poster von den Seitenwänden, auf denen in Collagen und Mindmaps u. a. politische Sachverhalte, provokante Anleitungen zur Folter und zum Drohnenbau, aber auch Fotos z. B. von PEGIDA-Demonstrationen, Angela Merkel, Osama Bin Laden, NPD-Plakaten und Murat Kurnaz zu sehen sind, kontextualisieren die antike Sage und bringen weitere Thematiken ins Spiel. Dies alles verleiht dem lockeren und dynamischen Spiel des jungen Ensembles eine große Drastik, überfordert den Zuschauer in weiten Teilen aber enorm. Simon Solberg und Dramaturgin Nadja Groß zeigen zu viele gesellschaftliche Querverweise und Baustellen, als dass man sich ernsthaft gedanklich mit einer aufgezeigten Problematik beschäftigen könnte, stellen damit aber auch unsere Überforderung durch den heutigen Informations(über)fluss zur Schau. Und auch die gleichzeitig zu rezipierenden Monologe und Handlungsverläufe, Videos und Posterausschnitte führen eher zu gnadenloser Reizüberflutung als zur einzelnen Wahrnehmung und Verarbeitung des Gezeigten und Gesprochenen. Da ist es hilfreich, dass die Argo 2.0 am Ende der Erzählung aus den detaillierten Plakaten gebaut wird und man nach dem Applaus die Gelegenheit hat, sich alle Bilder, Statistiken und Schlagworte in Ruhe anzugucken.
Kreative Anarchie
Bei aller Überforderung staunt man über die Dynamik und Präzision, mit der das Ensemble mit wenigen Requisiten neue Bilder und Räume schafft (Bühne und Kostüme: Christina Schmitt und Maike Storf): Die Betten werden zur Argo, zu Festungen, zu einem Gebirge und dienen als weitere Projektionsfläche, Konfetti ergibt sprudelndes Blut, Kissenfedern verwandeln sich in Schnee und Taschentücher in Tauben. Nach und nach herrscht kreatives Chaos, das einen unweigerlich in den Bann zieht. Wind- und Nebelmaschinen, mal zurückhaltende, mal energische Musik mit stimmigen Kampfchoreografien und der Taubenprobe als getanztes Schwanensee sowie eine kreative Lichtregie (Licht: Jürgen Kapitein) ergänzen den ästhetisch gelungenen Gesamteindruck. So macht die Reise – trotz der bedrückenden Modernisierung – mit einer Mischung aus starken Monologen, eindrucksvollem Technikaufwand und fantasievoller Bühnenbespielung großen Spaß und hinterlässt einen bleibenden Eindruck beim jubelnden Premierenpublikum.
Informationen zum Stück
Nächste Vorstellungen:
Montag, der 30. März
Samstag, der 11. April
Samstag, der 18. April