„Freunde waren sie nicht“, schreibt Stephan Opitz in seinem Nachwort zu dem mit Christoph Hilse herausgegebenen Briefwechsel von Marcel Reich-Ranicki und Peter Rühmkorf. Und wahrlich ging es nicht immer freundschaftlich zu in der Korrespondenz des Leiters des Literaturressorts der eher konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung und des Lyrikers „Roter Rühmkorf“ und Essayisten „von Gnaden“ – Mahnungen, verpasste Fristen, Entzücken und letztlich der Streit über Günter Grass’ Roman Ein weites Feld, der die beiden über Jahre entzweite.
von NADINE HEMGESBERG
Den ersten Brief sendet Marcel Reich-Ranicki am 9. Juni 1967, noch in Hamburg ansässig und als Literaturkritiker für DIE ZEIT tätig, mit der Bitte um einen Beitrag in einem Sammelband, In Sachen Böll – Ansichten und Einsichten, an den Dichter Peter Rühmkorf. Er bleibt unbeantwortet. Erst der zweite Brief Reich-Ranickis an Rühmkorf im Jahr 1974 bildet den eigentlichen Auftakt für den regen postalischen Austausch über Rezensionsaufträge, Interpretationen für die von Reich-Ranicki ins Leben gerufene und bis zu seinem Tod verantwortete Frankfurter Anthologie, zu Recht oder Unrecht vergessene Lyriker und das Verhältnis von Kunst und Kritik. Bis August 2006 schreiben die beiden insgesamt 287 Briefe, die Zeugnis nicht nur über das (Arbeits-)Verhältnis von Reich-Ranicki zu Rühmkorf ablegen, sondern eben auch Einblicke in den Aufbau des literarischen Feuilletons der FAZ und das Ansinnen Reich-Ranickis geben und Strömungen und literarische Eklats abbilden.
„Was soll denn überhaupt dieser ganze Saison-Fimmel?“
Einfach machten sie es sich jedoch bei Weitem nicht immer: Wieder und wieder muss Reich-Ranicki mahnen, muss Rühmkorf an die Bücher erinnern, die er noch besprechen wollte, die er zuweilen hortet und erst nach Jahren rezensiert. So schreibt der Großkritiker am 7. Januar 1976: „Ich warte nun sehnsüchtig (und tue dies schon seit über einem Jahr) auf Ihren Ringelnatz-Aufsatz. Gott hat für die Erschaffung der Welt sechs Tage gebraucht, und wieviel brauchen Sie für eine Kritik? Doch wird diese gewiß vollkommener sein als jene.“ Oder auch Reich-Ranicki am 21. Februar 1980: „Sie erinnern mich als Kritiker an jene Herren, die gierig auf Damen blicken und dann, wenn die Dame bei ihnen ist, selbige nicht einmal anfassen wollen.“ Die Zeit für die Einarbeitung, die gründliche Auseinandersetzung mit der Literatur – Rühmkorf wolle schließlich nichts nur mal eben „hinwichsen“ –, ist oft Thema ihres Schriftverkehrs. Der Dichter lässt sich allerdings nicht so einfach in die redaktionellen Abläufe einspinnen (und bei Weitem nicht so stark an die FAZ binden, wie es MRR im Sinn gehabt haben dürfte), Rühmkorf irritiert vielmehr der ganze „Saison-Fimmel“: Gute Literatur verjährt eben nicht. Aus heutiger Sicht ist dieses fast entschleunigte Feuilleton eh fast undenkbar, das Aufmerksamkeitskarussell für Neuerscheinungen dreht sich im Vergleich zu den 1970er Jahren mit einer – manchmal alle Substanz wegreißenden – Warpgeschwindigkeit.
„Hier liegt der faule Hase in Ihrem weltfremden Pfeffer“
Reich-Ranicki ist Rühmkorf und seinen Besprechungen und Essays zugetan, er wirbt um ihn, kann ihm keinen Wunsch abschlagen, tritt ihm gar für sich reservierte Titel ab: Heine zitierend schreibt MRR am 26. Januar 1983: „Mein Liebchen, was willst Du noch mehr?“, aber beklagt andererseits Rühmkorfs „Weltfremdheit“, wenn dieser anscheinend nicht in der Lage ist, die Verlagsvorschauen durchzusehen, ja, sich diese überhaupt von den Verlagen kommen zu lassen. Aber zumeist bleibt MRR eben der „unverbesserliche Optimist“, wie er am 27. Dezember 1979 schreibt: „Als Kritiker bin ich natürlich ein unverbesserlicher Optimist, der Optimismus gehört doch zu den wichtigsten Voraussetzungen unseres Gewerbes.“ Beide sind beeindruckende Briefschreiber, MRR mit seiner manchmal beißenden Ironie und Rühmkorf mit seiner kämpferischen Emphase. Kleinere Streitigkeiten und Brüche waren nahezu vorprogrammiert. MRR 2001: „Ich verspreche Ihnen, daß die Missetäterinnen, die das [Fehler im Abdruck von Rühmkorfs Texten in der FAZ] verschuldet haben, vor der Hauptwache in Frankfurt öffentlich ausgepeitscht werden, vorausgesetzt, daß Sie der Peitscher sein werden.“
Streit im weiten Feld
Nicht nur gerieten der Kritiker und Rühmkorf darüber in Unstimmigkeiten, was und in welchem Umfang in der FAZ oder der Frankfurter Anthologie abgedruckt werden sollte, Rühmkorf hatte auch immer das Gefühl, das kleinere Rädchen im Getriebe Literaturbetrieb zu sein – so schreibt er am 3. Februar 1988: „Wirklich beunruhigend finde ich bei solchen kulturhistorisch überhaupt nicht neuen Reibereien zwischen Kunst und Kritik eigentlich nur diese äußerste Mimosenhaftigkeit aufseiten des Machtmonopols. Jeder Redaktionsdirektor darf jeden Autor oder Beiträger jederzeit auf seine beinah schon austauschbare Teilchenhaftigkeit im kulturellen Spiralnebel verweisen, aber wehe dem Autor, der nur einmal zartest an die immerhin möglichen Anziehungskräfte weiterer Galaxien zu erinnern wagt.“ Zum fast fünfjährigen Bruch kommt es dann im Jahr 1995: „Wichtigster Protagonist war wieder einmal Marcel Reich-Ranicki, der sich nach einer Lesung (Grass präsentierte ein Kapitel aus dem noch unveröffentlichten Roman) begeistert gezeigt hatte [laut dpa-Meldung vom 26. April 1995], aber in einem vom Spiegel am 21. August 1995 publizierten offenen Brief mit dem Autor abrechnete.“ So fasst Stefan Neuhaus den Beginn des Eklats um Günter Grass’ Roman Ein weites Feld in Literaturkritik – Eine Einführung zusammen. Auf dem Titelbild eben jener Spiegel-Ausgabe vom 21. August 1995 ist Marcel Reich-Ranicki in einer Bildmontage zu sehen, wie er den Grass-Roman in zwei Teile zerreißt. In der FAZ vom 19. August 1995 schreibt dann Gustav Seibt: „So wurde der Roman ‚Ein weites Feld‘, dieses Zeugnis bester Absichten, heroischen Fleißes und der Abwesenheit jeglichen Kunstverstands, eine Totgeburt, ein Monstrum.“ Eine Debatte mit diversen Nebenschauplätzen entspann sich um den Roman, die Literaturkritik, antisemitische Tendenzen in der Diskussion um die Person Reich-Ranicki und die PR-Wirkung eines Verrisses. Am 24. August bespricht Reich-Ranicki den Roman nochmals im Literarischen Quartett. Woraufhin Rühmkorf ihm schreibt: „Nein, das war kein sogenannter ‚Verriß‘ mehr (wie noch am vorausgegangenen Montag im ‚Spiegel‘), das war das autoritäre Niederschreien eines schwierigen Buches und der in ihm vertretenen Meinungen, die sicher nicht jedermanns Billigung, aber doch wohl ein gewisses Maß an abwägender Duldsamkeit verdient gehabt hätten.“ Dabei ist vor allem dieser Disput über die Rezeption des Grass-Romans ein Sinnbild für die postalische Beziehung von Rühmkorf und Reich-Ranicki. Wie an anderer Stelle, an der Reich-Ranicki zwar antwortet, aber Teilbereiche einfach undiskutiert auslässt, so entzieht er sich auch hier einer Diskussion, zumindest im Rahmen der Korrespondenz mit dem Dichter. Erst im Jahr 2000, Rühmkorf sendet ihm einen Geburtstagsgruß zum 80. mitsamt einer Zeichnung, antwortet der Jubilar mit strengen Anforderungen einer Wiederannäherung: Rühmkorf möge öffentlich etwas zu seiner Autobiografie Mein Leben schreiben: „Und wenn Sie einen solchen Artikel nicht schreiben, was dann? Hass und Feindschaft bis zum Ende des Lebens? Nein, natürlich nicht. Aber keinerlei Kontakt, bitte.“
Sehr gute Edition
Die Edition, die Hilse und Opitz im Auftrag der Arno Schmidt Stiftung und in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach herausgegeben haben, ist ihnen aufs Beste gelungen. Ein umfassender Apparat begleitet den Briefverkehr der Korrespondierenden, bibliografische Angaben und ein internes Verweissystem sowie Erläuterungen zu Sachverhalten und lexikalischen Uneindeutigkeiten kontextualisieren das Konvolut. Diese Edition ist ein großer Gewinn für und als literarisches Leben.