Des FAUSTS Kern, Oder: Die Sinnkrise des Egozentrikers

Faust I am Theater Bonn   Foto: Thilo BeuGoethes Faust I. Ein Stoff, der im Gegensatz zu manch anderen zu Recht nicht aus der Mode gerät. Unter der Regie von Alice Buddeberg feierte das Stück am Theater Bonn Premiere. Die Regisseurin hat sich bereits an diversen Klassikern positiv aufgerieben, und auch dieses Mal verwandelt sie die alten literarischen Staubteilchen in eine nahbare Inszenierung. Eine Inszenierung, die Faust I nicht nur in die heutige Zeit, sondern auch auf den Boden, den ein jeder begeht, transportiert.

von SILVANA MAMMONE

Faust, der ewig Suchende, hängt in der Luft, unbeweglich und seinen kreisenden Gedanken ausgeliefert. Dieser Zustand wird zu Anfang sprichwörtlich auf die Bühne transportiert – Faust (Glenn Goltz) ist eingesperrt in seinem quadratischen Schwebekämmerchen, seine diversen Persönlichkeiten, anschaulich dargestellt durch identische Kostüme (Martina Küster), hängen an Seilen von der Decke. Die Bühne (Cora Saller) ist dunkel und kahl. Von Anfang an gleicht die gesamte Inszenierung einer Exkursion in Fausts Innerstes, wo auch Mephisto mitsamt all seinen niederen Eigenschaften haust und in welches Gretchen (Mareike Hein) später Einzug erhält. Mehr als diese Figuren sind der Vorlage nicht entnommen, dabei ist Mephisto durch drei SchauspielerInnen verkörpert – ein junger und ein älterer Mann (Wolfgang Rüter und Daniel Breitfelder) und eine junge Frau (Johanna Falckner). Vollkommen auf Fausts inneren Konflikt zentriert, verdammt die Regisseurin den Selben aus der Welt. Die Bühne ist und bleibt ein leerer Raum, den außer Gretchen keine weitere Figur betritt.

„Zeigʼ mir die Frucht, die fault eh man sie bricht!“

Fausts Geisteszustand ist anfangs so kläglich, dass sich der erste Teil des Stücks zäh dahinzieht. Alles hat er gelesen, alles gesehen und doch ist er nicht weiser als zuvor, keineswegs gesättigt. Gequält wälzt er sich auf der schmutzigen Matratze, die sein schwebendes Kämmerchen enthält. Als moderner Künstler, von seiner tiefgründigen Sinnkrise niedergestreckt, geht er einem zu Anfang etwas auf den Geist. Manisch sucht er, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, und malt dabei Bilder, die aussehen als seien sie von Rene Polleschs 5-jährigem Schüler gemalt. Mit einem Augenzwinkern inszeniert die Regisseurin das Treffen zwischen Faust, dem depressiven Melancholiker, und einem Alkoholiker, der ebenso quasi-weise daherredet, dass er sich dem Zuschauer als Fausts zukünftiges Ich offenbart. „Hör auf mit deinem Gram zu spielen!“, bellt ihn Mephisto an und bringt damit zumindest einen Bruchteil seines Krisenzustands auf den Punkt. Die drei Mephistos nehmen sich Faust an, lassen ihre Reize spielen, belächeln sein intellektuelles Gefasel. Fausts verzweifelte Sinnsuche wollen sie umkehren in einen niemals endenden Rausch und ihn so zu leben lehren, mit allen Sinnen und folglich ohne verkopft zu sein: „Sobald du mir vertraust, so bald weißt du zu leben.“ Darstellerisch wird nicht nur die Versuchung durch Mephisto sexualisiert, auch der Pakt wird erotisiert und ist gleichsam Zeugnis der tiefgreifenden Verbindung, die Faust eingeht. Sobald die Körper der vier Darsteller verschmelzen, ist Mephisto nicht mehr aus Fausts Gedanken zu verbannen und auch die Figuren nicht mehr klar voneinander zu trennen.

Facetten seiner selbst

Mit der Zeit grenzt Fausts innerer Konflikt zunehmend an Schizophrenie. Er ist nun unentwegt geplagt, verfolgt von Mephistos Ansichten von der Welt, die nunmehr auch seine eigenen sind: „Alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.“ Im Laufe der Inszenierung wird das Potential der drei Mephistos vollkommen ausgeschöpft. Dabei wirkt Mephisto nicht wie der übersinnliche, satanische Verführer, zu dem er in einigen Interpretationen des Stoffs gemacht wird. Vielmehr gelingt es Buddeberg, ihn als Teile von Faust auftreten zu lassen. Die Summe all seiner Facetten erlaubt dem Zuschauer in die Abgründe zu blicken, in die Faust durch Zweifel, Selbstverachtung und Rastlosigkeit getrieben wird. Auch hier arbeitet die Inszenierung mit Farbe, die unentwegt von einem der Mephistos genutzt wird, um sich mit ihr zu beschmieren. Die dunkelgraue Farbe, gemeinsam mit teils zerfetzten Kostümen, lässt insbesondere Mephistos Erbärmlichkeit zum Vorschein kommen. Andere Male wirkt er wiederum infantil, hilflos, angsteinflößend oder abstoßend. Zunehmend erweckt die Darbietung nicht nur Befremdung und Angst, sondern ebenso Lacher oder Mitleid. Strebt Mephisto aktiv nach Zerstörung alles Bestehenden, ist Fausts destruktives Potential eher passiv und schleichend. Immerzu zweifelnd, rastlos und geplagt, wird Fausts Abgründigkeit durch seine Beziehung zu Gretchen enthüllt. Stets im Kampf mit sich selbst, ist Faust gar nicht in der Lage, jemanden so zu lieben, wie Gretchen es in ihrer Unschuld vermag.

Faust I am Theater Bonn   Foto: Thilo Beu„Neapel sehen und sterben“

Als der Pakt geschlossen ist, wird Faust sogleich nackt aus dem Kämmerchen ins schöne Neapel geworfen. Die Inszenierung entzaubert Faust. Ist seine Darstellung zwar wahrhaftig und anrührend, glorifiziert sie ihn dennoch nicht als großen Denker, als tragischen Helden der Intellektualität. In dieses Muster der Inszenierung fügt sich auch die Darstellung der Beziehung zwischen Faust und Margarethe. Während Gretchens Liebe aufrichtig und innig scheint, ahnt man bereits zu Anfang, dass Faust zu solcher Liebe gar nicht fähig ist. Auch dies wird erneut durch Fausts kümmerliches Maltalent zur Schau gestellt, versucht er Gretchen mehrmals auf Papier festzuhalten, die jedoch meist einem Mondgesicht mit Hitlerbärtchen gleicht. Selbst im Kuss kann Faust nicht verweilen, wird er doch stets von Mephisto und seinen diversen anzüglichen Kommentaren unterbrochen. Letzterer spielt die Liebe runter und macht sie ihm am Ende madig. Doch auch darin ist ein Stück Wahrheit enthalten: „Sie liebt dich. Du liebst sie nicht!“ In Fausts unstillbarem Lebenshunger ist auch Gretchen bloß Konsumware und wird von ihrem Liebsten im Einkaufswagen, während einer scheinbar romantischen Szene, umherkutschiert. Als beide dann entblößt voreinander stehen, im Moment höchsten Glücks, lässt Faust sie fallen. Seine Entschuldigung dafür, dass er Gretchen für immer gebrochen hat, ist seine plötzliche Epiphanie: „Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen ist.“

Tragik eines Luftballons

Rückblickend ist es die Kindheit, auf der Bühne verkörpert durch einen weiß gekleideten Kinderchor, die es uns ermöglicht, die unendlichen Möglichkeiten, die uns das Leben bietet, als wundersam anzusehen. Erst einmal erwachsen, erdrückt uns das hohe Maß der Selbstbestimmung, und somit mutiert unsere Entscheidungsmacht in ein ewiges Verneinen, ist man gerade irgendwo angekommen. Auch Fausts Verneinen und die Unmöglichkeit zu verweilen werden auf der Bühne durch massenhaft dunkelgraue Luftballons mit abstrakten, ausdruckslosen Gesichtern verbildlicht. Am Ende bleibt bloß ein einziger Ballon auf der weiten Bühne übrig. Die Welt verschließt sich Faust erneut und er ist allein mit sich und seinen Gedanken. Als Gretchen ihr Kind schließlich ermordet, verschwimmen die Grenzen zwischen Faust und Mephisto endgültig. Bezeichnend ist, dass Gretchen das letzte Wort im Stück hat, da die Schlusszeilen gestrichen wurden, und somit endet es mit Gretchens Ausdruck der Verachtung: „Heinrich, mir grautʼs vor dir.“

Des Pudels nichtiger Kern?

Die Tragik der neuzeitlichen Freiheit und der aus ihr entspringenden Rastlosigkeit wird in Form von Fausts Konflikt gelungen auf die Bühne gebracht. Mit grundsätzlich wenig Requisite, einer weitestgehend kahlen Bühne und  intensiver, stimmiger Musik (Stefan Paul Goetsch) wird Faust I in die heutige Zeit transportiert und gleichzeitig auf das Wesentliche, Fausts inneren Kampf mit sich selbst, reduziert. Faust wird niemals finden, was er sucht, denn in dem Akt des Suchens ist das Nicht-Finden bereits vorherbestimmt. Er weiß nicht wirklich, was er sucht, dabei ist er immer wieder auf sich selbst zurück geworfen. In seinem narzisstischen Zirkel bleibt ihm die ihn tatsächlich umgebende Welt verschlossen. Vielleicht klingt „des Pudels Kern“ zu Recht lächerlich. Er ist das unbestimmte und doch glorifizierte Ziel, dem jeder für sich auf traurige und zugleich komische Weise hinterherdackelt. Schließlich begegnet man Faust mit Verachtung und Verständnis zugleich: „Die Wahrheit ist, dass [ihm] auf Erden nicht zu helfen ist.“

Informationen zum Stück
Weitere Vorstellungen:
Sonntag, der 03. Mai
Mittwoch, der 06. Mai
Samstag, der 09. Mai

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