Judith Hermann präsentiert in ihrem ersten Roman Aller Liebe Anfang ein beklemmendes Vorortszenario in detachiertem Stil. Der Leser wird hier Zuschauer einer Lebensrealität, die er für kein Geld der Welt nacherleben wollen würde.
von RAMONA SCHERMER
Stella lebt mit Mann und Kind in einem Vorort. Es ist ein ruhiges Leben, ein beschauliches. Sie arbeitet als Altenpflegerin und verbringt viel Zeit mit ihrer kleinen Tochter Ava. Jason, Avas Vater, ist beruflich viel unterwegs und oft wochenlang nicht zuhause. Er ist auch abwesend, als ein Mann beginnt, Kontakt mit Stella herstellen zu wollen. Mr. Pfister, ein Typ aus der Nachbarschaft, klingelt täglich und wartet vor Stellas Haus – spannende Ausgangssituation, oder?
Isn’t that romance? – Stella und Jason lernen sich im Flugzeug kennen. Sie hat Flugangst, er ist für sie da. Sie sehen sich wieder, sie bleiben zusammen. Der Roman, der das Kennenlernen der beiden nur kurz, aber eindringlich schildert, setzt wieder ein, als die beiden bereits mehrere Jahre verheiratet sind und gemeinsam mit Tochter in einem Vorort leben. Der Leser erhält Einblick in Stellas Gefühlswelt und ihm soll klar werden, nein, ihm wird daumendick aufs Brot geschmiert, dass Stella sich irgendwie nicht richtig wohl fühlt; in ihrer Ehe, in diesem Vorort und überhaupt: „Sie wünscht sich, dass Jason sie ansieht. Sie wünscht sich, dass er ihr zuhört. Sie will ihm zeigen, was sie sieht. Sie wünscht sich, dass sie Jason schon immer hätte kennen können, obwohl sie weiß, dass sie, hätte sie Jason schon immer gekannt, heute auf keinen Fall mehr mit ihm zusammen wäre. Sie ist älter geworden, Jason ist älter geworden. Ava wird groß.“ Das Leben der jungen Mutter wird getaktet durch ihren Job als Altenpflegerin, bei dem sie zu den Leuten nach Hause fährt, sie wäscht und versorgt, oberflächliche Gespräche führt, sich langweilt. Alles scheint von Intimität geprägt, die jedoch beide – Pflegerin und Gepflegter – notgedrungen über sich ergehen lassen. Alles, was Stella sonst noch beschäftigt, ist ihre Familie. Sie versorgt Ada, die „so einzelgängerisch und verstockt [ist]wie Jason“.
All das ‚passiert‘ vor der Kulisse eines Einfamilienhauses in der Straße einer Kleinstadt, die so trist bis steril wirkt, dass sie gut als Schauplatz für dramatische und/oder schreckliche Ereignisse dienen könnte. Hier taucht er dann auch auf, Mr. Pfister, der Mann von nebenan, der sich zu Stellas Beunruhigung täglich vor ihr Gartentörchen stellt und klingelt. Die Ungewissheit über die Motive und Ziele des Mannes, der immer zu wissen scheint, wann sie zu Hause ist und ihr so regelmäßig nachstellt, dass er ihr bald als Stalker erscheint, lassen sie von einer anfänglichen Unsicherheit in Panik und Aggression abgleiten, ein Prozess, bei dem der Leser sie begleiten muss.
Mr. Pfister wird zu einer zwielichtigen Konstante in Stellas Leben, das ansonsten doch von so viel Abwesenheit geprägt ist, zumal ihr einziger sie umgebender Vertrauter ihre kleine Tochter ist.
Bei aller Liebe
Diese Verfolgung der Seelenqualen der Protagonistin fällt schwer, da man ihre diffusen Ängste schlecht nachvollziehen kann. Zu jedem Zeitpunkt der Geschichte verharrt sie in ihrer stillen Passivität, scheint unzufrieden, aber auch vorstellungslos, was es zu verändern gölte. Mr. Pfister, der im Verlauf des Romans immer zudringlicher wird, dient Stella als Projektionsfläche für ihre Ängste, und leider auch nicht mehr. Denn der mysteriöse Fremde stellt sich als bemitleidenswerter einsamer Mensch heraus, wie eigentlich alle Figuren des Romans. Das Leben ist hart.
Hart ist auch der Stil, mit dem der Leser ringen darf und der sich bei der Lektüre zeitweise der Konkurrenz des Tapetenmusters an der gegenüberliegenden Wand stellen musste, denn Judith Hermanns erster Roman mutet nicht nur inhaltlich oft etwas fade an: „Jason. Abwesend, seine schmale, im Schlaf erstaunlich leichte Gestalt neben ihr; Jasons Abwesenheit, Jason ziemlich weit weg, und das Bett neben Stella ist leer.“ Man möchte diese Figur packen und schütteln oder sie wenigstens anflehen, ihren Mitmenschen mitzuteilen, was sie über sie denkt. All diese unausgesprochenen Worte wabern als bedrückender Nebel zwischen den Zeilen; eine Stimmung, die leider zu keinem Zeitpunkt aufgelöst wird. Manchmal wäre mehr dann eben auch mehr gewesen. Hermanns stilistische Reduziertheit zermürbt das Leserhirn so stoisch wie ein Cowboysattel ein Steak bei einem Ritt in den Sonnenuntergang von Idaho.