Dirk Popes instruktiver Jugendroman Idiotensicher übersetzt Die Abenteuer des Tom Sawyer in die Gegenwart. Sein Held heißt Moki und ist ein Freak voller verrückter Ideen. Mit seinem Cowboyhut fühlt er sich wie der schwarze Held in Tarantinos Django Unchained. Seine Freunde Joss und Basti dagegen sind ziemlich normal und umkreisen ihn „wie Motten das Licht“, so empfindet es zumindest die pummelige Elín, die Älteste der Gruppe. Doch die in vielen Jugendromanen mit häufig denselben Wertungen belegten Koordinaten des freiheitsstrebenden „Verrücken“ und des mit der Erwachsenenwelt verbundenen Konformismus sollen sich in Popes Roman bald verschieben.
von FRANK MÜLLER
Der im Frühjahr im Münchener Hanser-Verlag erschienene Roman beschreibt die fragile Architektur von Freundschaften. Er zeigt, wie leicht sich so ein Gefüge verschiebt, ja sogar einzustürzen droht, wenn Dinge in Bewegung geraten. Und das passiert schnell, wenn man mit Moki befreundet ist. Wie bei der Sache mit dem frisierten Motorrad, dem „Japsen“, mit dem die drei Jungen auf einem verlassenen Fabrikgelände Sprünge üben. So wie mit dem Kran am Fluss, von dem sie hinunterspringen, ohne zu wissen, ob unten im Wasser nicht alte Maschinenteile nur darauf warten, die Eintauchenden aufzuspießen. Oder so wie beim „House Running“, bei dem es darum geht, in fremde Häuser einzudringen, um von hinten an den Bewohnern vorbei einmal quer durchs Wohnzimmer zu rennen. Oder, oder, oder.
Fast wie bei Tom Sawyer
Das klingt nicht von ungefähr nach Wagemut und wilden Abenteuern, und in der Tat unternimmt der Autor Pope nichts Geringeres, als Mark Twains Jugendbuchklassiker Die Abenteuer des Tom Sawyer aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart zu hieven. Dabei bleibt vom urtümlichen Kolorit so einiges hängen: Da gibt es den schwarzen Jungen, der das Wort „Neger“ als gar nicht so falsch empfindet. Wenn er in den Fluss springt, schmerzt der Aufprall aufs Wasser wie „Peitschenhiebe“. Am Ufer eines „Mississippi“ spielt sich auch hier alles ab. Und es gibt sogar einen „Schatz“! Im Unterschied zu Twains Roman handelt es sich dabei aber nicht um eine Truhe voller Goldmünzen, sondern um eine Kiste mit allerfeinstem Dope. Als Moki bestimmt, dass sie die Drogen verkaufen sollten, fädelt die gebürtige Isländerin Elín, die erst nach dem Fund zum Trio stößt, über einen Mittelsmann den Kontakt zu zwei Dealern ein.
Und plötzlich gerät die eigentlich idiotensichere Sache außer Kontrolle. Den Leser überrascht das kaum, im Gegenteil. Schon in der Konstruktion des Romans scheint angelegt, dass hier einiges schieflaufen muss: Die drei Hauptkapitel sind als „Akten“ gekennzeichnet, die wiederum einzelne „Protokolle“ enthalten. In diesen übernehmen drei verschiedene Ich-Erzähler die Darstellung ihre Sicht auf die Ereignisse: Joss, Basti und Elín. Pope verleiht jeder seiner Figuren ihre eigene Sprache. Joss spricht besonnen und reflektiert, Basti assoziativ, aufgeregt und mit vielen Auslassungen, Elín in kurzen, elliptischen Sätzen. Nur Moki erhält keine eigene Erzählerrolle, er entsteigt als schillernde Figur den Schilderungen seiner Freunde.
Pope begnügt sich jedoch nicht damit, den Erzählstrang linear durch die „Protokolle“ zu führen. Neben den ständigen Perspektivenwechseln gibt es Überschneidungen, Vorgriffe, Rückblenden. Das fordert den Leser, die Geschichte als dreifarbiges Puzzle aus den Einzelteilen zusammenzusetzen. Gleichzeitig liegt hierin das Spannungsprinzip dieses Jugendromans. Nur an einer einzigen Stelle auf den knapp 200 Seiten wird das vom Leser vollständig imaginierte polizeiliche Verhör direkter greifbar, und zwar wenn Joss fragt: „Kann ich bitte ein Glas Wasser haben?“
Die Frage nach dem Grau
Wenn man bedenkt, dass erst durch die Ich-Perspektive, zu der Twain in seinem Nachfolger Die Abenteuer des Huckleberry Finn wechselt, moralische Konflikte ernst genommen werden, anstatt sie nur distanziert zu beurteilen, so überspringt Pope sogar einen für den amerikanischen Schriftsteller noch wichtigen Entwicklungsschritt. Seine Figuren verhandeln immer auch Fragen des Gewissens und der Moral. Und ausnahmslos geschieht dies selbstgesteuert und intrinsisch – nicht aus der Warte eines mahnenden Erzählers, der die Erwachsenenordnung vertritt. Darf man beispielsweise das Dope den Dealern, denen es abhandengekommen ist, zurückverkaufen, damit diese es anschließend auf dem Schulhof verticken? Und wie steht es um die moralische Integrität der Freunde? Joss, mit Hang zum Philosophieren, löst das untergründig schwelende Konfliktfeld unterschiedlicher Herkunftskulturen – der „schwarze“ Moki und die „weiße“ Elín – von der Frage nach Gut und Böse ab, neutralisiert sie also: „Zwischen den beiden war es weniger die Frage ‚schwarz oder weiß‘, sondern wer von beiden grauer war, dunkel- oder hellgrau. Je länger ich darüber nachdenke – genau das war ihr Problem: die Frage nach dem Grau.“
Die innere Widersprüchlichkeit jeder Jugendliteratur beruht auf dem Spannungsverhältnis von Autor und Erzählgegenstand: Es sind zumeist Erwachsene, die schreiben. Dabei müssen sie die Erfahrungen und Lebenswelten der jüngeren Generation zunächst neu aufschließen und rekonstruieren. Und wenn sich der Schlüssel nicht findet, vielleicht sogar die Brechstange zur Hand nehmen. Pope, der „neben dem Schreiben“ als Deutsch- und Sportlehrer arbeitet, wie der Klappentext nicht ohne Selbstironie verrät, gelingt das Eintauchen in das eigentlich Fernliegende mit bewundernswerter Lässigkeit. Wenn er beispielsweise Begriffe aus dem Vokabular der Jugendsprache schöpft, geschieht das fast wie selbstverständlich – und nicht mit der plumpen Bemühtheit des Außenstehenden.
Überhaupt zeichnet sich das Buch durch eine wohltuende Distanz zur Elterngeneration und den verbeamteten Erziehungsberechtigten aus. Die Eltern von Joss und Basti: Spießer mit einem zwanghaften Ordnungssinn; der Vater, als Vertriebsleiter gerne unterwegs auf Messen oder „Mitarbeiterinnenschulungen“; der Lehrer Kruschka, ein Gartenzwerg-Liebhaber, isoliert von der Nachbarschaft, gutgläubig und völlig hilflos, als sich der ertappte Basti im Klassenzimmer ein Stück Dope in den Mund stopft, anstatt es ihm auszuhändigen. Auch damit liefert Popes Debüt das, was einen Jugendroman nicht nur für Jugendliche spannend und lesenswert macht: Projektionsflächen, Reibungspunkte und ein großartiges Abenteuer.