Gefangen in den Maschen der Erinnerung

die unverheiratet   Foto: Georg SoulekWann hört er endlich auf, der Film, der unaufhaltsam in Dauerschleife im Kopf eines Opfers, Täters oder Traumatisierten läuft? Ist er irgendwann einfach abgespielt oder muss man ihn selbst anhalten? die unverheiratete lässt uns teilhaben an der finalen Abwicklung einer grausamen Tat, die wie ein solcher Film im Kopf der Täterin abläuft.

von ALINE PRIGGE

Die Oma ist im Krankenhaus, alt ist sie geworden. Hat ihr Zeug überall im Haus liegen lassen. Kann auch nicht mehr so gut sehen, und erst kürzlich musste der Herd vom Stromnetz genommen werden. Ihre Tochter (Christiane von Poelnitz) ist überspannt, spricht mit den Ärzten und macht sich Gedanken darüber, wer sie pflegen soll. Die Enkelin (Stefanie Reinsperger) ist betroffen. Eben hinterließ sie noch ein aussagekräftiges Foto auf dem Handy ihres One-Night-Stands, jetzt steht sie zwischen den weißen Plastikplanen des Krankenhauses. Bis hierhin eine Szene, die zur Konfrontation mit dem Alter für die nachfolgenden Generationen dazugehört. Wäre da nicht der Prolog, bei dem vier adrett gekleidete Frauen mit Korkenzieherlocken und aus der Mode gekommenen Kleidern von einer Gerichtsverhandlung berichten.

In abgehackten Sequenzen, in denen sich immer wieder bedrohlich der Vorhang hebt und senkt, stolpert zu Beginn die vermeintlich senile Großmutter (Elisabeth Orth) über die locker aufgehäuften Grabhügel aus schwarzer Erde, die in ordentlichen Reihen auf der Bühne verteilt sind – mal geblendet vom Licht (Peter Brandl), der das Bühnenbild (Robert Borgmann) dominierenden Lampenkonstruktion, mal geschützt vom Theatervorhang. Sie läuft gebeugt von der Last auf ihren Schultern und versteckt sie sich, während die vier „hundsmäuligen Schwestern“, Gestalten aus ihrer Erinnerung, die mal Freundinnen, mal Leidensgenossinnen, mal Anwälte verkörpern (Sabine Haupt, Alexandra Henkel, Sylvie Rohrer und Petra Morzé), fratzenschneidend den Prozess wiedergeben. Erst als die Angeklagte sprechen soll, hebt sich der Vorhang endgültig, doch die Alte sitzt nur stocksteif da.

„Ich kann nur sagen ich kann mich nicht erinnern mehr beim besten Willen nicht“

Mutter und Tochter gehen unterschiedlich mit dem Schreck über den Unfall der Großmutter um. Die Jüngere kann sich mit der Distanz einer Enkeltochter liebevoll um die Oma kümmern, während die Mittlere versucht, ihre tiefsitzende Enttäuschung von der Beziehung sowohl zu ihrer Mutter als auch zu ihrer eigenständigen Tochter mit Gleichgültigkeit zu kaschieren. „Fallobst bin ich“, wirft sie ihrer Mutter in einem hässlichen Moment der Schuldzuweisung vor. Renitent gegen die Vorwürfe treibt die Alte ihre Tochter dazu sich apathisch das eigene Grab herzurichten ohne, dass die anderen davon Kenntnis nehmen würden. Um was für eine Schuld es sich eigentlich handelt, die die Alte trägt, erfährt man in immer wiederkehrenden Erinnerungssequenzen, die vor allem von den ausdrucksstarken vier Nebendarstellerinnen getragen werden. Hierbei tritt die alte Dame schnell in den Hintergrund, wird schreckstarre Zuschauerin, die das Geschehen vom Bühnenrand her ertragen muss. Die Jüngere, die versucht, die Familienvergangenheit anhand eines Tagebuchs aufzuarbeiten, schlüpft in diesen Erinnerungen immer öfter in die Rolle der verstörten Großmutter. Der Rollenwechsel wirkt keinesfalls aufgesetzt, zeigt er doch eher die Auseinandersetzung der Enkelin mit der Vergangenheit ihrer Großmutter und den Einfluss des Verschwiegenen auf sie. Stefanie Reinsperger gelingt dabei mühelos der Wechsel zwischen der selbstverleugnenden Täterin und einer weltoffenen jungen Frau, die sich gegen die Liebe zu ihrer Großmutter nicht wehren kann.

Wie die Maschen, die nun von den ständig klappernden Nadeln der Großmutter fallen, verstricken sich Erinnerungen, Gegenwart, Vorwürfe und Schuldgefühle zu einem untrennbaren Netz, immer wieder gestört vom Läuten des Telefons, das nicht nur Überbringer der Unfallnachricht, sondern auch Bestandteil der Denunziation ist, der sich die Großmutter in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs schuldig gemacht hat. Ihre Neugierde brachte sie dazu ein Telefongespräch zu belauschen, bei dem ein junger Soldat vom Desertieren sprach (scherzte). Sie bestätigte das Gehörte bei den Nazis und besiegelte damit seinen Tod. Konfrontiert mit ihrem Anteil an diesem Urteil, kann sie sich weder vor den Nachkriegsgerichten, in ihrem Tagebuch, noch Jahre später vor ihrer Enkeltochter genau erinnern.

die unverheiratete   Foto: Georg SoulekWas mich von Oma trennt kann nicht der Tod der Wahrheit sein

In die unverheiratete thematisiert Ewald Palmetshofer einen Aspekt der Nazizeit, der bis heute nur schwer aufzuarbeiten ist: der Umgang mit der NS-Schuld in der eigenen Familie. Dabei steht jedoch nicht die Frage nach der Schuld an sich im Mittelpunkt seiner Betrachtung, sondern eher, wie das Schweigen darüber die folgenden Generationen zerstört. Großmutter und Mutter scheinen nicht miteinander reden zu wollen, sind permanent enttäuscht voneinander, und schaffen sie es doch einmal, artet ihr Gespräch in Streit aus. Die Enttäuschung wird dabei schon mal zu einem aufgesetzten Bild der Kriegspropaganda – wie sie dort auf dem Tisch in Zeitlupe die Axt schwingt, während hinter ihr der rote Vorhang weht. Die Jüngere hingegen scheint einen Weg gefunden zu haben, verbindet schöne Kindheitserinnerungen mit ihr, und auch das Wissen, das sie an ihrem 18. Geburtstag über ihre Großmutter erlangte, konnte das Verhältnis nicht zerstören. Dafür will ihr eine Beziehung zur eigenen Mutter nicht so recht gelingen, stattdessen lebt sie sich sexuell mit jedem aus, den sie bekommen kann – dabei wird das heimliche Durchsuchen des Handys fast zu einem intimeren Akt als der Sex an sich.

Dass es sich bei dem Unfall nicht um einen Unfall handelte, wird spätestens dann klar, als die Mittlere, mit roter Farbe übergossen und dreckbeschmiert, einen Elektramonolog herausschreit, während die Ältere im Hintergrund immer wieder versucht, auf einen Stuhl zu steigen, um sich mit einem selbstgestrickten Seil zu erhängen. Wem dieses Schuldeingeständnis nicht plakativ genug ist, darf sich noch an dem Epilog sattsehen, in dem die vier Schwestern mit einem Hitlerbärtchen auftreten. Überhaupt hätte das Ende ein bisschen weniger Drama vertragen können. Das Geschrei der Mittleren fällt schon vor dem Bühnenrand leer zu Boden und auch die langerwartete Annäherung will bei der lieblosen, aufgesetzten Umarmung der Enkelin nicht gelingen.

Dass die unverheiratete trotzdem wohlverdient als eine der zehn besten Inszenierungen zum Theatertreffen 2015 ins Haus der Berliner Festspiele eingeladen wurde, liegt auch an den Schauspielerinnen, die Palmetshofers ellipsenhaften Text wie Alltagssprache aussehen lassen, sowie am kargen Bühnenbild und dem Licht, denen es ein Leichtes ist, die Seelenlandschaft einer alten Frau, Österreich 1945 und die Gegenwart zu verbinden. Die eindrucksvolle Konstruktion aus Lampen schenkt nicht nur kalte Gerichtssaalatmosphäre oder blendet wie die Sonne, sie ist auch unzuverlässig wie eine Erinnerung. Geht mal an, mal aus, leuchtet mal stärker mal schwächer.

Als Nächstes dürfen wir auf eine Besprechung des Ex-Jugoslawienstücks Common Ground von Yael Ronen am Maxim Gorki Theater gespannt sein.

Aline Prigge studiert Theaterwissenschaft und Komparatistik an der Ruhr-Universität Bochum und macht zurzeit ein Praktikum in der Presseabteilung der Berliner Festspiele.

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