Eine Hochzeit und zig Todesfälle

"Leas Hochzeit" am Schauspielhaus Bochum Foto: Hans Jürgen LandesNein, ganz so makaber geht es in Leas Hochzeit nicht zur Sache. Doch Judith Herzbergs Stück thematisiert den Holocaust und die Folgen für die Überlebenden auf bitterböse und doch erstaunlich leichtfüßige Art und Weise. Regisseur Eric de Vroedt zeigt nun in seiner Inszenierung in den Bochumer Kammerspielen Figuren, die zwischen Verdrängung und Verarbeitung changieren und denen es nur schwerlich gelingt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

von ANNIKA MEYER

Die Niederlande, Anfang der 1970er: Nico (Raiko Küster) und Lea (Therese Dörr) heiraten. Es ist ihre zweite bzw. dritte Hochzeit, selbst ihre Ex-Partner Dory (Bettina Engelhardt) und Alexander (Henrik Schubert) sind zum Fest erschienen und verdeutlichen, dass man trotz nicht erloschener Gefühle noch mehr oder weniger befreundet bleiben kann. Auch Leas nicht-jüdische „Kriegsmutter“ Riet (Katharina Linder), bei der sie während des Krieges unter falscher Identität gelebt hat, ist gekommen – zum leichten Widerwillen von Leas Mutter Ada (Anke Zillich). Diese fühlt sich noch immer schuldig, weil sie Lea vor der Deportation nach Auschwitz weggegeben hat, und sieht somit in Riet weiterhin eine Konkurrenz. Und so geht das Geflecht immer weiter: Die Verwandtschaft – allesamt noch traumatisiert ob der Geschehnisse des Dritten Reiches – bemüht sich um Feststimmung, obwohl das Thema Holocaust bei der zum größten Teil jüdischen Feiergemeinschaft  allgegenwärtig ist.

Gefeiert wird in einem Hotel mit klassischer 70er Jahre-Optik (Bühne: Maze de Boer) inkl. rötlicher Holzverkleidung und knallig rotem Teppich. Insgesamt 16 Türen und Treppen bieten im Hotelfoyer genügend Auf- und Abtrittsmöglichkeiten für das zwölfköpfige Ensemble, das sich in knapp 80 kurzen Szenen und innerhalb 135 Minuten stets neu formiert. Geschickt wird via Videoprojektionen (Lena Newton und Daan Hazendonk) immer wieder das Geschehen außerhalb der Bühne – die Ankunft am Hotel, das Festessen, das Anschneiden der Torte – gezeigt; auch Lichteffekte (Bernie van Velzen) und nicht zu aufdringliche, aber doch für die Zeit signifikante Musik (Florentijn Boddendijk und Remco de Jong) erinnern daran, dass es noch eine Feier abseits des Flurs gibt. Das eigentliche Geschehen findet jedoch im wortwörtlichen Zwischenraum statt: Ständig wechselt man zwischen dem Festsaal, der Toilette und weiteren Räumlichkeiten, gedanklich hängt man zwischen Holocaust und Gegenwart, und zwischenmenschliche Beziehungen und Konflikte treten hier immer neu zutage.

"Leas Hochzeit" am Schauspielhaus Bochum Foto: Hans Jürgen LandesWege der Verdrängung

Nicht nur Ada und Riet wissen nicht recht, wie sie miteinander umgehen sollen, auch Nicos Stiefmutter Duifje (Veronika Nickl) überspielt ihre Unsicherheit – als Nichtjüdin und ohne Holocaust-Trauma fühlt sie sich als zu „normal“ – durch aufgesetzte Fröhlichkeit mit pinkem Barbiekleid (Kostüme: Lotte Goos) und starker Gesichtsbräunung und leidet auf ihre eigene Art darunter, dass ihr Mann Zwart (Jürgen Hartmann) auch noch Jahrzehnte später den Tod seiner Frau und seines zweiten Sohnes im KZ nicht überwunden hat. Zwart kaschiert anfangs seine Trauer durch allzu lässiges Auftreten, wird jedoch von Sohn Nico stets konfrontiert, Mutter und Bruder nicht gerettet und ihn zu Kriegseltern geschickt zu haben. Und Leas Vater Simon (Martin Horn) nähert sich der Vergangenheit eher auf intellektueller Ebene, hat jedoch kein Verständnis, dass seine Frau Ada sich am nächsten Tag in eine psychiatrische Klinik einweisen will und er ihr als Unterstützung nicht genug ist.

Generell zeigt das gesamte Ensemble ein gelungenes Spiel zwischen (aufgesetzter) Heiterkeit und bitteren Abgründen. Anke Zillich spielt ihre Ada sehr berührend, sowohl mit der Stärke einer Überlebenden als auch mit teils trotziger, teils kindlicher Verletzlichkeit, wenn sie sich zum Beispiel vorstellt, wie alle anwesenden Gäste, die sie nicht sieht, trotzdem da sind, und somit auch all ihre verstorbenen Bekannten zwar nicht sichtbar sind, aber rein theoretisch präsent, also noch lebendig sein könnten. Katharina Linder als Riet verkörpert überzeugend das genaue Gegenteil: Sie überspielt ihre Unsicherheit als abgestoßener Familienteil, indem sie das Thema Holocaust und Judentum immer wieder – auf unpassendste Weise – thematisiert und lieber scheinbar fröhlich vor sich hinplappert, als unangenehme Stille zu ertragen. Nicola Mastroberardino als Nicos bester Freund Hans, dessen Familie den Holocaust nicht überlebte, dient in Szenen, die durch die drastische Thematik ins zu Schwermütige abzurutschen drohen, immer wieder als Comic Relief, indem er charmant die Kellnerin (Anna Döing) umgarnt oder mit ihr  versucht, die fallengelassene Hochzeitstorte unauffällig wegzukehren. Und Thorsten Flassig spielt mit gewohnt toller Körperlichkeit Daniel, der – ja, was hat er eigentlich auf der Hochzeit zu suchen? Hier wird es plötzlich nebulös, wenn sich der junge Daniel als jemand zu erkennen gibt, der sich frei in der Zeit bewegen kann und plant, Lea zur Frau zu nehmen, da er noch vor ihrer Kindheit im gleichen Haus gelebt hat und sie somit füreinander bestimmt sind. Daniel kann aber auch als übergeordnete Stütze für den Zuschauer gelten – er stellt die Leinwand auf und guckt sich mit uns die Hochzeitsvideos an, er trägt Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg vor, die verdeutlichen, wie drastisch Kriegskindern ihre eigentlichen Familien genommen wurden.

Ein schmaler Grat zwischen Schwermut und Leichtigkeit

Nein, eine vergnügliche Feier ist Leas Hochzeit wahrlich nicht. Doch Herzberg und das niederländische Team um Eric de Vroedt, das schon mit der Inszenierung von Hugo Clausʼ Freitag in der letzten Spielzeit die Gratwanderung von Beklemmung und Unbefangenheit meisterte, schaffen es, trotz der ernsten Thematik den Theaterabend nicht mit einem permanenten Schleier der Betroffenheit zu bedecken. Von scheinbar arglosen Alltagsanekdoten kippt die Stimmung immer wieder in Konsternation, wenn zum Beispiel Ada von einer harmlosen Straßenbahnfahrt vom Vortag berichtet, bei der sie glaubte, die Kontrolleure sprächen deutsch, was bei ihr eine Panikattacke auslöste, nur um dann mit einem Witz das Ganze zu überspielen. Und die Witze haben es in sich. Es bleibt einem das Lachen nicht im Hals, sondern schon im Bauch stecken, wenn die Hinterbliebenen zwischen Heiterkeit, Zynismus und bitterbösem Ernst schwanken.

Nach über zwei Stunden sind nicht nur die Hochzeitsgäste erschöpft, auch das Publikum ist körperlich und emotional ausgelaugt. Ob Lea mit Nico ihr Glück findet oder doch, wie schon in früher Kindheit, ihren Weg und Platz noch weiter suchen muss, steht offen. Die Geschichte dieser Patchwork-Familie geht in Herzbergs Folgestücken Heftgarn und Simon noch weiter. Die Zuschauer gehen nun erstmal, sichtlich bewegt und der Leistung des Bochumer Ensembles sowie der extra angereisten Autorin viel Applaus schenkend, nach Hause.

Informationen zum Stück
Nächste Vorstellungen:
Freitag, der 22. Mai
Sonntag, der 07. Juni
Freitag, der 19. Juni

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