In einer Zeit, in der sich für die tagtäglichen Verstümmelungen und Verletzungen keine Worte, für die Toten keine Würde und keine Anerkennung mehr finden und keine überschaubare Zahl mehr nennen lässt, sind es ausgerechnet die Einzelschicksale der Hinterbliebenen, die ihre ganz eigenen, kaum zu begreifenden Katastrophen darstellen. Philippe Claudel zeichnet in Die grauen Seelen das Bild des Alltags von Menschen, die ihren Alltag durch den Krieg verloren haben.
von MELINA LOSCHEN
Es gibt keine Schützengräben, keine Frontschweine und keine Kameradschaften. Philippe Claudels Die grauen Seelen ist kein Kriegsroman, wie man ihn erwarten würde. Nicht zuletzt aus tiefster Anerkennung gegenüber den bekanntesten Werken des Ersten Weltkriegs verzichtet der Autor auf Darstellungen der Geschehnisse an der Front, dennoch kommt der Krieg keinesfalls zu kurz. Er findet hinter einer Anhöhe statt, lediglich der Kanonendonner ist omnipräsent: Im Winter 1917 im Dorf P., in der Nähe von V., erschüttert der Mord an der kleinen Belle-de-jour die ohnehin kriegsgeschundenen Gemüter. Denn sei die Front noch so nah – diese „Affäre“ ist es, was P. beschäftigt.
Hübsch grau, wie wir alle
Die sogenannte Affäre ist der Motor der Erzählung. Wenngleich die Frage nach dem Täter recht bald als beantwortet erklärt wird, kann der Gendarm den Fall nicht auf sich beruhen lassen. Claudel präsentiert hier eine messerscharf ausdifferenzierte Konstellation von Charakteren, die noch in P. verweilen, und seine Geschichte zu dem machen, was sie ist: ein Seelenkrimi. Es ist ein Querschnitt durch die Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts und beginnenden 20. Jahrhunderts: Ob nun der gesellschaftlich geschätzte, privat aber übermäßig isolierte Staatsanwalt Destinat oder die alkoholkranke Fellsammlerin Josephine – alle tragen ihre ganz eigene Geschichte in sich. Es ist Josephines gegenüber dem Gendarm verlautbartes Credo, das sich durch die gesamte Erzählung hinweg behauptet: „Nichts ist ganz schwarz oder weiß; das Grau setzt sich durch. So ist es auch bei den Menschen und ihren Seelen. Du bist eine graue Seele, hübsch grau, wie wir alle.“
Die Motivation des Erzählers, sich erst zwanzig Jahre nach dem Geschehen zu Wort zu melden, ist schwer auszumachen: Ist es das Rätsel um die Affäre? Ist es ein Versuch, mit dem Geschehenen abzuschließen? Eindeutig ist jedenfalls, dass auch diese Zeit dem Gendarmen nicht gereicht hat, um das Vergangene für sich selbst zu ordnen. In von der Chronologie abweichenden Kapiteln wird die Geschichte des Dorfes P. erzählt, erst am Ende des Romans fügt sich das Erzählkonstrukt zu einem stimmigen, beeindruckend durchdachten und herausragend pointierten Stück.
Zwischen Moral und Realität
Es erscheint geradezu unanständig, sich an Einzelschicksalen aufzuhalten, während hinter der Anhöhe in P. an der Front tagtäglich etliche Menschen aufs Grausamste entstellt werden oder ihr Leben lassen. Und doch wird deutlich, dass der Krieg für jemanden erst dann wirklich präsent ist, wenn er selbst oder eine nahestehende Person beteiligt ist. Die Menschen in P. sind an das entfernte Grollen der Einschläge gewöhnt. Sie haben sich einen neuen Alltag konstruiert, der die unzähligen verkrüppelten Soldaten, die zuhauf in die Stadt geliefert werden, und der die zerstörten Orte und Gemüter ohne weitere Nennung in sich integriert hat. Dieser provisorische Alltag ermöglicht es, dass die Menschen nicht zerbrechen – bis ein Leben, das der Dorflehrerin Lysia, ein jähes Ende nimmt und ein zweites von diesem Schicksalsschlag massiv beeinflusst wird.
Dann kommt es zur „Affäre“ und weitere Leben gehen auf ganz unterschiedlichen Wegen zugrunde, während die charakterlich schmutzigsten Abgründe anderer Akteure freigelegt werden. Doch es sind diese Momente, Personen und Schicksale, die „Soloinstrumente in der Symphonie der Sterbenden“, die dem Leser nachhaltig Eindruck machen.
Harmonische Kriegsführung
Der rote Faden ist der Krieg. Nicht aber der Weltkrieg, sondern der eigene, persönliche Kampf, der die Menschen in P. am Leben hält und gleichzeitig ruiniert. Sei es der verzweifelte Krieg gegen die Resignation, der als Kompensation wirkende Krieg gegen das Rätsel der Affäre oder der aussichtslose Krieg gegen die eigene Vergangenheit, jeder findet seinen Nischenkrieg. Und es beeindruckt umso mehr, wie es Claudel gelingt, zwei paradox daherkommende Begriffe zu einen: Harmonie und Gewalt. Sein Roman ist pure Gewalt, denn der Leser leidet nicht selten unter den ungeschönten Ausführungen des Gendarms, aber alles ist derart harmonisch verfasst, dass es umso mehr erschüttert, wenn der Inhalt an der wirklich schönen Verpackung rüttelt.