Starke Themen im Konfettiregen

BAAL von Frank Castorf   Foto: Thomas Aurin

Baal von Frank Castorf Foto: Thomas Aurin

Am 17. Mai ging das 52. Theatertreffen im Haus der Berliner Festspiele mit der umstrittenen und nach dieser Aufführung verbotenen Baal-Inszenierung von Frank Castorf zu Ende. Die Zuschauer feierten die Aufführung mit Standing Ovations und nicht enden wollendem Jubel. Ein denkwürdiges Finale für die drei spannenden, abwechslungsreichen und sehr politischen Wochen, die hinter dem Berliner Publikum liegen.

von ALINE PRIGGE

Das Publikum des Festivals ist elitär, kaum Studierende oder junge Menschen besuchen die Vorstellungen, was bei den Kartenpreisen kaum verwunderlich, aber schade ist. Auch die Regelung zu Ermäßigungen ist eher undurchsichtig, dafür bietet das Theatertreffen viele andere Möglichkeiten aktiv am Festival teilzunehmen. Etwa bei den Übertragungen einiger Stücke im Sony Center oder beim Stückemarkt, einer Plattform für neue Formen der Autorenschaft, die nicht nur erschwingliche Preise bereithält, sondern in diesem Jahr auch ein absolutes Highlight des Theatertreffens war. Auch das Camp, das als Teil des Internationalen Forums zum Rahmenprogramm des Festivals gehört, bietet viele kostenlose Diskussionen und Veranstaltungen. Regisseure, Autoren und Theatermacher, Journalisten sowie Jurymitglieder und Anwälte meldeten sich zu Wort.

Zum Beispiel beim Thementag „Say it loud, say it clear…“, der von Flucht, Einwanderung und Asylgesetzgebung handelte und gemeinsam mit Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück Die Schutzbefohlenen das Festival eröffnete. Die Aufführung, in der in der ersten Hälfte weiße, gut ausgebildete Schauspieler die Rolle der Flüchtlinge übernehmen, wirkt aufgesetzt und die Gags bleiben auf halben Weg zwischen Bühne und Publikum in der Luft hängen. Und wenn das Stück mit dem Satz „Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen“ endet, fragt man sich, ob es nicht noch plakativer geht. Es geht. Kurz darauf stimmen die Schauspieler ein Lied an, im Hintergrund ein Video von Leichen am Mittelmeer, Särgen und Teddys. Doch Stemann nutzt plakative Darstellung und Aufgesetztheit auch, um das Scheitern der Kunst an der Thematik zu verdeutlichen und betont in diversen Interviews, dass er kein Interesse daran hat, für dieses Thema Lösungen auf der Bühne zu finden, die in der Realität nicht folgen können. Was stattdessen wirklich berührt, sind die Flüchtlinge selbst, die auf der Bühne stehen und denselben Text sprechen, wie eben noch die Schauspieler. Wer seine Eindrücke noch vertiefen möchte, bleibt noch zum Tischgespräch, das Stemann nun nach jeder Vorstellung anbieten möchte. Hier erzählt mir Gabriel von seiner Flucht als 14-jähriger, wie er es über das Meer schaffte, in einem Bus nach Deutschland kam und dann wochenlang auf dem Boden einer Kirche in St. Pauli, Hamburg, geschlafen hat. Auch er stand eben auf der Bühne, doch jetzt, wenn wir miteinander sprechen, ist seine Stimme sehr leise und privat. Ich frage ihn nach seinem Leben in Ghana, seiner Familie, seinen damaligen Wünschen für die Zukunft und ich frage, wie es heute für ihn ist. Die Menschen, mit denen er in der Kirche übernachtet hat, sind heute seine Familie und das Einzige, wovon er heute noch träumt ist die Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland. Keine Duldung, sondern wirklich hier sein.

Von endlosem Warten und beklemmender Enge

Von allen Inszenierungen, die das Theatertreffen ausgewählt hat, gehörte Warten auf Godot (Regie: Ivan Panteleev) am Deutschen Theater zu den eher unpolitischen. Und den vorzeitig den Saal verlassenden Zuschauern nach zu urteilen, auch zu den am wenigsten spannenden. Bot Samuel Finzis minutenlang herauskrakeltes „Ein Mops kam in die Küche…“ im Black auch die perfekte Möglichkeit unbemerkt den Zuschauerraum zu verlassen. Das Warten ist bei Warten auf Godot ja schon im Namen enthalten und während die Schauspieler warten, wartet das Publikum eben mit. Da ist Langeweile vorprogrammiert. Das wissen auch Samuel Finzi und Wolfram Koch, die den Zuschauern beim Spiel mit der Langeweile immer wieder ein Lachen, oder zumindest ein Lächeln entlocken können. Sei es durch Kochs nackten Fuß, oder durch das durch Schnipsen angedeutete Ballspiel, in dem die Sportarten im fliegenden Wechsel vorbeiziehen. Ivan Panteleev, der die Inszenierung Dimiter Gotscheff gewidmet hat, gelingt es großartig, die Zeit zäh vorbei ziehen zu lassen, und schafft immer wieder Perlen der Erheiterung – nicht zuletzt durch Andreas Döhlers brillante Darstellung des einfältigen Lucky, der immer wieder in schmerzhafter Langsamkeit fast von der schrägen Bühne rutscht.

Karin Henkels Inszenierung von John Gabriel Borkman vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg hingegen wird vom Publikum begeistert aufgenommen, zwei Schauspielerinnen des Stücks sogar mit Preisen des Theatertreffens geehrt. Lina Beckmann erhielt wohlverdient den 3Sat-Preis. Ihre Darstellung der Ella Rentheim, die sie mit schriller Stimme und ungelenkem, ja sogar albernen Verführungsversuchen über die grauen Stufen der Bühne turnen lässt, fasziniert und begeistert zugleich. Gala Winter bekam für ihre Rolle der Frieda den Alfred-Kerr-Preis, den im Vorfeld noch viele Journalisten bei der Favoritin Stefanie Reinsperger gesehen hatten.

In der Inszenierung werden sie fast zwei Stunden gemeinsam mit Josef Ostendorf (John Gabriel Borkman), Julia Wieninger (Gunhild Borkman), Jan-Peter Kampwirth (Erhart Borkman), Kate Strong (Fanny Wilton) und Matthias Bundschuh (Vilhelm Foldal) in die albtraumhafte Kulisse eines Bunkers eingesperrt. Kein Wunder, dass Lina Beckmann als Ella bei den zugemauerten Fenstern und der liturgischen Gruftimusik Beklemmungen bekommt. Auch Gala Winters glockenklare Stimme oder das Tauziehen an Erharts Pullover vermögen nicht, den Grusel zu heben.

Enthüllungen im Konfettiregen

Im Gegensatz zu den tristen Bühnenbildern bei Godot und Borkman, inszeniert Christopher Rüping Das Fest, nach dem Film von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov, als eine Riesenparty. Die Geschwister Helene, Christian und Michael haben sich lange nicht mehr gesehen und sind alle zum Geburtstag ihres Vaters nach Hause gekommen. Es gibt Schmuseeinlagen in XXL-Wollpullovern, Mitmachtheater, für alle, die wollen oder auch nicht wollen, Elektrotanzeinlagen auf den Tischen und schließlich den Konfettiregen, der die große Enthüllung bringt. Christian beschuldigt den Vater, ihn als Jungen sexuell missbraucht zu haben, und auch seine Zwillingsschwester Linda, die sich im vergangenen Jahr das Leben nahm. Wie Blei legt sich das Geständnis über den Raum. Das Publikum, das vorher begeistert mitgejohlt und auf den Plätzen geschunkelt hat, ist auf einmal mucksmäuschenstill. Der Christian ist wohl überarbeitet, sagt die Mutter, er soll lieber gehen. Oder sich entschuldigen. Christian tritt an den Rand der Bühne und fragt, wer ihm glaubt? Zaghaft heben sich Arme aus den Zuschauerreihen. Doch so leicht ist der Rest der Familie nicht zu überzeugen. Rüpings Inszenierung entfaltet sich nun in einem Reigen aus heiterem Rollentausch, fast jeder darf sowohl die Rolle des Opfers, als auch die des Täters einnehmen, manchmal direkt nacheinander. Das wühlt auf und als der Vater sich schließlich am Ende für seine Taten entschuldigt, hat man nicht einen Mann gesehen, dessen Leben als verstörter Junge zerbrochen wurde, sondern gleich drei. Jeder fühlt gleich und ist dennoch vollkommen unterschiedlich und allein in seinem Schmerz und seiner Unfähigkeit damit abzuschließen.

Auch Die lächerliche Finsternis, nach einem Hörspiel von Wolfram Lotz, inszeniert von Dušan David Parizek am Burgtheater Wien befasst sich mit politischen Themen. Wie in der ersten, zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierung die unverheiratete sind auch hier nur Frauen auf der Bühne zu sehen – dieses Mal verkörpern sie jedoch fast ausschließlich Männer. Frida-Lovisa Hamann, Dorothee Hartinger, Stefanie Reinsperger und Catrin Striebeck spielen ihre Rollen als Machosoldaten oder im Fall von Reinsperger eines somalischen Piraten und später afghanischen Einheimischen mit viel Charme und einer gutpointierten Portion Humor. Auf ihrer Flussfahrt durch den „afghanischen Regenwald“ dekonstruieren sie mit Hilfe eines Häckslers schon mal das Bühnenbild zu einer gegrölten Version von „The Lion Sleeps Tonight“ und ermöglichen dem Publikum optional 20 Minuten Pause. Viele der angesprochenen Themen, wie zum Beispiel der Prozess eines somalischen Piraten vor dem Landgericht Hamburg, werden in der Inszenierung durch den Kakao gezogen und damit die Wirklichkeit genauso dekonstruiert, wie das Bühnenbild.

Und zum Abschluss dann noch Baal

Castorfs Baal-Inszenierung am Residenztheater München bedarf keiner weiteren Einführung, zu lang war der Rechtsstreit, den Suhrkamp im Namen der Brechterbin wegen zu vieler verwendeter Fremdtexte gegen die Inszenierung focht. Zwei Aufführungen durfte es dennoch geben, die allerletzte dann in Berlin beim Theatertreffen. Sie wurde so sehnsüchtig erwartet, dass die letzte Eintrittskarte kurz vor Vorstellungsbeginn für mehr als 100 Euro vom Theatertreffen-Blog (unabhängig vom Theatertreffen) versteigert wurde. Der Erlös wurde gespendet an einen guten Zweck – an die Brechterbin.

Dass einer alten Frau Castorfs Softporno und Vergewaltigungsszenen in Serie, die Baal dann schlussendlich geworden ist, nicht unbedingt gefällt, ist nicht sonderlich verwunderlich. Viele Witze des Abends gaben ordentliche Seitenhiebe auf das Verbot ab, etwa wenn Franz Pätzold als Ekart zu Beginn fragt, wie lange die Vorführung denn dauert und Baal, gespielt von Aurel Manthei antwortet, er wisse es nicht, aber es sei zumindest die letzte. Die Schauspieler wettern auch später noch humorvoll über zu viel Fremdtext und Castorfs Abschied von der Volksbühne. Trotz vieler guter Momente ziehen sich die viereinhalb Stunden Aufführungszeit teilweise träge hin oder rutschen ins Alberne ab. Dem Theatertreffen Publikum hat es trotzdem gefallen.

Aline Prigge studiert Theaterwissenschaft und Komparatistik an der Ruhr-Universität Bochum und macht zurzeit ein Praktikum in der Presseabteilung der Berliner Festspiele.

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