Die Schweiz bietet neben Bergen, Käse mit vielen Löchern und treffsicheren Nationalhelden einigen Anlass, interessante Geschichten zu erzählen, denn mitten in Europa schlägt sein finanzielles Herz. Im Umfeld von Finanzkrisen, Steuerdaten-CDs und Geheimdienstskandalen findet sich das kleine Land einmal mehr im Zentrum einer Welt, deren Regeln den Nichteingeweihten – und damit dem größten Teil jeder potentiellen Leserschaft – mehr als obskur erscheinen. Martin Suter mag mit Montecristo der einzige Romancier sein, dem es gelingt, aus dieser Situation einen eleganten Verschwörungsplot zu spinnen, ohne der Versuchung zu erliegen, gleich ein Tom-Cruise-Film-gerechtes Drehbuch abzuliefern.
von SOLVEJG NITZKE
Natürlich ist der geübten Leserin von Kriminalgeschichten, von Martin Suter-Romanen im Besonderen, gleich klar, dass der Personenschaden, der Montecristo eröffnet, nicht halb so nebensächlich bleiben wird, wie er am Anfang erscheint. Sie lässt sich, anders als der Protagonist, nicht ablenken und beobachtet mit Argusaugen, wie sich ein Plot (selbstverständlich im doppelten Sinne des Wortes) entfaltet, den sich niemand – zumindest besagter Protagonist nicht – erträumt hätte.
Verdächtige Zufälle und schöne Nebensachen
Zu Beginn also springt/fällt jemand aus dem Zug. Genervte Pendler nehmen die dadurch verursachte Verspätung murrend in Kauf, während der Protagonist, Videojournalist Jonas Brand, die Gelegenheit nutzt, ein paar Aufnahmen zu machen – wer weiß, wozu sie einmal gut sind. Ihm jedenfalls erscheinen sie nicht von Belang, ebenso wenig wie der Redaktion von Highlife, dem Boulevardmagazin, für das er arbeitet, so dass die Aufnahmen schnell in den Schubladen des Archivs landen. Jonas hat ohnehin Besseres zu tun; seine neue Freundin Marina nimmt seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch, bis – und dieses „bis …“ ist es, das die Leserin gespannt erwartet – ein weiterer Zufall eine Kette von Ereignissen in Gang setzt, die nicht nur Jonas in Lebensgefahr bringt …
Jonas findet, was er nicht finden dürfte: zwei Hundert-Franken-Banknoten mit der exakt gleichen Seriennummer. Wenn es sich nicht um Falschgeld handelt – und das tut es nicht –, dann handelt es sich um einen Skandal, dessen Reichweite die engen Grenzen der Alpennation um ein Vielfaches überschreitet. Doch plötzlich – Glück oder noch ein „Zufall“? – rückt die Erfüllung von Jonasʼ lang gehegtem Traum in Reichweite. Die Förderung seines Films Montecristo wird endlich doch bewilligt und alles andere rückt in den Hintergrund. Es könnte alles so einfach sein, aber Geheimnisse sind hartnäckig und ein Fall wie dieser lässt sich auch unter noch so viel Arbeit nicht begraben.
Elegante Unterhaltung in Bestform
Wer bis hierhin das Gefühl hatte, einem relativ konventionellen Thrillerplot auf der Spur zu sein, der soll nicht enttäuscht werden. Gespräche mit frustrierten Bankangestellten, semi-paranoiden Journalistenkollegen, Bankchefs und der selbstverständlich ständig verführerischen Marina enthüllen ein Netzwerk von (Bank-)Geheimnissen, das einem wirklich Gänsehaut machen kann, hier aber, um das Lesevergnügen nicht zu schmälern, im Dunkeln bleiben soll.
Denn ein Vergnügen ist das Lesen dieses Romans ohne Zweifel. Nicht nur weil Suter in gewohnt elegantem Plauderton die geschniegelte Welt der schweizerischen Finanzwelt darzustellen weiß. Gerade die konventionelle Anlage, das Spiel mit dem Genre, wenn man so will, ist ja Suters Spezialität. Der äußerst erfolgreiche Autor hat die seltene Gabe, beinahe zu spektakuläre Situationen in die Biografien relativ unspektakulärer Figuren einzuflechten (und umgekehrt), ohne dass Handlung oder Personal seiner Romane unglaubwürdig werden. Anders als auf „normal“ getrimmte Figuren wie Dan Browns Robert Langdon, ist Suters Jonas Brand tatsächlich vorstellbar. Nur so wird das Verschwörungsszenario plausibel und umso beunruhigender, denn niemand will und wird den Helden spielen – oder? Montecristo mag nicht Suters bester Roman sein, aber er ist für all jene uneingeschränkt zu empfehlen, die ein gut gemachtes Stück Unterhaltung zu schätzen wissen.
Das sehe ich doch ganz ähnlich: http://pop-polit.com/2015/05/10/martin-suter-montecristo-roman/