Stellt die Anthologie Fledermausland eine zu großen Teilen gelungene Hommage an den amerikanischen Journalisten und Schriftsteller Hunter S. Thompson dar, so schreit der hintere Umschlag von Die Rolling-Stone-Jahre die Leserin an, dass hier „die größten journalistischen Arbeiten Hunter S. Thompsons in einem Buch vereint“ seien. Schön und gut und greatartig, mag sich die interessierte Leserin denken, um dann enttäuscht festzustellen, dass es sich um gekürzte Fassungen handelt.
von KAI FISCHER
Die Pop-Connaisseure und Sachverständigen kannten den Mann natürlich immer schon. Spätestens mit Terry Gilliams Verfilmung von Fear and Loathing in Las Vegas (1998) war es auch der breiten Masse vergönnt, den Mann und sein Treiben, sprich Drogen, Politik, ein bisschen Sex und noch viel mehr Drogen, kennenzulernen. Dank Johnny Depp wurde das Konzept von Gonzo jenseits von Pornografie geläufig und man konnte lernen, dass es in beiden Bereichen, also Journalismus und berufsmäßigem Geschlechtsverkehr, um eine bestimmte Form von inszenierter Unmittelbarkeit geht, bei der die Grenze zwischen Fakt und Fiktion durchlässig geworden war und die subjektive Perspektive des Aufzeichnenden in den Vordergrund rückte. Dann, 2005, trat HST einem Popstar angemessen mit einem suizidalen Knall von der Bühne ab. Ende. Aus. Feierabend… Doch an dieser Stelle unterscheiden sich HSTs Biografie und Nachleben nicht von der Biografie und dem Nachleben anderer Popkulturidole: Irgendjemand findet etwas im Nachlass und beschließt, das Gefundene zu veröffentlichen, egal ob unfertig, schlecht oder vom Autor schlicht nicht für eine Publikation vorgesehen. Oder ein findiger Verleger kommt auf den nachvollziehbaren Gedanken, bereits in anderen Produktionszusammenhängen publizierte Texte noch einmal gesammelt zu veröffentlichen. Schön und gut, vor allem ökonomisch sinnvoll.
Mostly politics
Auftritt Jann Wenner, Mitgründer und immer noch Herausgeber der Zeitschrift Rolling Stone sowie gemeinsam mit Paul Scanlon verantwortlich für die ausgewählten und zusammengefassten Reportagen, die nun bei Heyne Hardcore unter dem Titel Die Rolling-Stone-Jahre auf Deutsch erschienen sind. Und an dieser Stelle kann man zum ersten Mal die Sinnhaftigkeit dieses publizistischen Vorhabens, sofern man es nicht unter ökonomischen Vorzeichen sieht, infrage stellen. Interessieren sich deutsche Leserinnen für HSTs Reportagen über amerikanische Innenpolitik der 1970er Jahre? Vielleicht ist es nur mein Vorurteil, dass ich deutschen Leserinnen unterstelle, sie interessierten sich nicht für die Präsidentschaft Nixons, die sich wie ein roter Faden durch HSTs Texte zieht; vielleicht möchten sich die Leserinnen mit einer Seite der Thompsonschen Textproduktion bekannt machen, die stets im Schatten des Fear-and-Loathing-in-Las-Vegas-Erfolgs gestanden hat, nämlich mit dem politischen Kommentator HST; vielleicht ist es aber auch nur Jann Wenners Bestreben gewesen, an die guten alten Zeiten zu erinnern, als die Zeitschrift Rolling Stone in der Kooperation mit HST noch politisch relevant gewesen ist. In diesem Sinne fungierte die Sammlung als eine Art historische Dokumentation einer turbulenten politischen Zeit in Amerika, die zudem auf den (mittlerweile wohl verloren gegangenen) Zusammenhang von Pop und Politik, und somit auf die Notwendigkeit des persönlichen Engagements verweist.
„Kann das weg? Glaub schon…“
In dieser Hinsicht allerdings taugt die vorliegende Zusammenstellung nicht, was vor allem an den unverständlichen Entscheidungen des Herausgebers und seines Mitarbeiters liegt. „Was soll das heißen?“, fragt niemand aufgeregt. Nun ja, das heißt, Sie, werte Leserin, sollen um ihr hart Erspartes gebracht werden. In der Einleitung weist Paul Scanlon darauf hin, dass der Umfang der Arbeiten HSTs für Rolling Stone bei etwa 450.000 Wörtern liege. Nach der Durchsicht durch Scanlon bleiben davon 210.000 Wörter übrig. Für die, die vergleichbar schnell rechnen wie ich, heißt das, dass von der Auswahl der Texte bis zur Drucklegung des Buchs mehr als die Hälfte aller für den Rolling Stone geschriebenen Wörter auf der Strecke geblieben sind. „Warum?“ oder „Wie konnte das geschehen?“, fragt wieder niemand, diesmal etwas aufgeregter. Erklärung Scanlons: Kürzungen seien vorgenommen worden, um das Element der Zeitgebundenheit zu verringern, eine überraschende Entscheidung, wenn man den Gegenstand – zur Erinnerung: amerikanische (Innen-)Politik der 1970er (!) – bedenkt. Aber gut, solange man als Leserin wenigstens einen guten Eindruck von der Schreibweise HSTs bekommt, können die inhaltlichen Auslassungen sicherlich verschmerzt werden. Wieder Scanlon: „Charakteristische Merkmale von Hunters Schreibstil sind die grandiose Abschweifung sowie der etwas kürzere, aber sorgfältig formulierte ausführliche Seitenstrang. Wenn eine Abschweifung den Erzählfluss störte, wurde sie gestrichen.“ Nun könnte man Scanlon daran erinnern, dass es zum Wesen einer Abschweifung gehört, den Erzählfluss zu stören. Oder man könnte so weit gehen und behaupten, dass die Digression bzw. eine digressive Erzählweise eine unkonventionelle Form der Erzählflussstrukturierung darstellt, somit keine Störung, sondern deren konstitutiver Bestandteil sei. Vielleicht könnte man angesichts dieses charakteristischen Merkmals von Hunters Schreibstil einmal die Frage stellen, warum diese Abschweifungen so charakteristisch sind. Vielleicht käme man zu dem Ergebnis, dass Hunters abschweifender oder sich in ausführlichen Seitensträngen verlierender Schreibstil den Versuch darstellt, die vergiftete Wahrnehmung und Denkweise des professionellen Drogenessers im und als Text performativ abzubilden. Und wenn dem so ist, dann darf man die Frage stellen, warum haben Scanlon und Wenner überhaupt Kürzungen vorgenommen, wenn damit ein charakteristisches Merkmal seines Schreibstils betroffen ist. Es ist dieser Umstand, der sowohl die englische als auch die deutsche Publikation unnötig und ärgerlich macht.
„Der wahre Stoff“ und andere Scheußlichkeiten oder auch Fear and Loathing at the Department of Corrections
Dazu gesellt sich in Die Rolling-Stone-Jahre noch das Unbehagen angesichts der Übersetzung, bspw. wenn Scanlon von seiner Reaktion nach der Lektüre von einem Artikel Thompsons berichtet: „Jedenfalls war ich nach besagtem Artikel in The Nation davon überzeugt, dass dieser Kerl der wahre Stoff war.“ Ernsthaft!?!?!? Dieser oder jener sei „der wahre Stoff“? So etwas sagt doch niemand im Deutschen. Und was wurde da übersetzt? Die Wendung „the real deal“? Oder gar „the real stuff“? Zudem ist das Buch nur mäßig lektoriert worden, wenn man bspw. die Fehler auf den Seiten 45, 48 und 55 zur Kenntnis nimmt (es sind noch viel mehr drin, versprochen), oder in folgende Sprachwurst tritt: „jene Woche im August 68, wo [sic!] sie uns echt das Hirn gefickt haben.“ Das Fazit lautet demnach, wenig überraschend: Wenn Sie sich für HST interessieren, greifen Sie zu einer originalsprachlichen Ausgabe – etwa The Great Shark Hunt –, meiden Sie aber bitte unter allen Umständen Fear and Loathing at Rolling Stone (Ey, allein schon der Titel…).