Kaspar Hauser und Die Sprachlosen aus Devil County – unter diesem Titel feiert das neuste Stück des Dortmunder Sprechchors und des in dieser Spielzeit gegründeten Kindersprechchors am Schauspiel Dortmund seine Uraufführung. Bei dieser letzten Premiere in einer durchaus turbulenten Spielzeit zeigen Thorsten Bihegue und Alexander Kerlin (Text und Regie) einen Abend, der mit meist klugen Textfragmenten zwar im Hirn, doch nicht immer unter der Haut haften bleibt.
von ANNIKA MEYER
Der Fall des Findlings Kaspar Hauser, der 1828 als ca. 16-jähriger Junge in Nürnberg auftaucht und anscheinend fernab der humanen Zivilisation und frei von menschlicher Nähe „erzogen“ wurde, ist bis heute nicht geklärt. Das Schauspiel Dortmund versucht in Kaspar Hauser und Die Sprachlosen aus Devil County gar nicht erst, mehr über seine Biografie zu erzählen, als es Zeitberichte und Romane wie Jakob Wassermanns Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens (1908) zuvor schon taten. Die bekannten Passagen aus Kaspars Leben, das 1833 durch ein Messerattentat, vielleicht aber auch durch Kaspar selbst aufgrund nachlassender öffentlicher Aufmerksamkeit früh beendet wurde, werden von den 14 Mitgliedern des Kindersprechchors, gekleidet in Leibchen bzw. Uniformen im Stil des frühen 19. Jahrhunderts (Kostüme: Clara Hedwig), souverän vorgetragen.
Der über 80-köpfige Sprechchor präsentiert auf der schlichten, mit wenigen Stufen und einer eleganten, alten Tapete versehenen Bühne des Studios (Bühne: Jan P. Brandt) zum Teil Sequenzen aus der Biografie Kaspars nach 1828 – z. B. eine Logikprüfung und Lehrstunden bei einem Professor –, zum Teil intelligente und gedankenvolle Abhandlungen über das Gefangen- und Ausgeschlossen-Sein innerhalb der Gesellschaft und das Finden und Verlieren der Identität. Und auch über die Wirkung und die Barrieren von Sprache werden im Chor nicht wenige Worte verloren: Sind Redensarten versteckte Lügen oder entstehen sie zwangsläufig, da die Sprache voller Löcher ist?
Der Kanon der Imperative
Der Sprechchor, der seit 2011 in diversen Dortmunder Produktionen beteiligt ist, agiert meist sehr gewandt, stets wird auf kreative Art die Vielseitigkeit und Musikalität des Deutschen vorgeführt, wenn zum Beispiel von verschiedenen Gruppen vorgetragene Befehle einen eigenen Rhythmus entwickeln, der dynamisch in die von Tommy Finke komponierte Musik überleitet. Vielen Chormitgliedern hätten deutlich mehr Körperspannung und eine erkennbare Mimik jedoch gutgetan. Die wenigen Männer des Chors sind allerdings akustisch und optisch ein Highlight, wenn sie, ausgestattet mit roten Sommerkleidern und passend lackierten Fußnägeln, voller Inbrunst Andreas Doraus Tulpen und Narzissen schmettern. Generell präsentiert die Musik ein breites Potpourri, von sanften Gitarrenklängen über Orgelmusik bis hin zu schmissigem Synthie-Pop, wirkt allerdings teilweise etwas willkürlich eingesetzt. Kaspars Geburtstagslied, das, erst in Dur, dann in Moll vorgetragen, auch inhaltlich immer bedrohlicher wird, ist hingegen so simpel wie genial in seiner Wirkung: Anfangs gratulieren die Erwachsenen den Kinder-Kaspars, später werden sie immer fordernder und Kaspar steht deutlich zwischen den Extremen einer herrischen Gesellschaft und den eigenen zart knospenden Bedürfnissen. Und auch die großartig vom Chor gesungene Finke-Komposition Brüder und Schwestern ist zwar dezent kitschig, zeigt aber anschaulich und anrührend Kaspar Hausers Einsamkeit und die Distanz zu seinen Mitmenschen, wenn er in den Sternen eine andere, bessere Familie zu erkennen glaubt.
Der Rest ist Schweigen
So wirkungsvoll und anschaulich die Musik überwiegend ist, den Szenenwechseln hätte eine bessere Kooperation von Finke und dem Chor nicht geschadet. Allzu statisch und platt wirken die Übergänge zwischen den einzelnen Textmosaiken, die größtenteils aus der Feder Bihegues und Kerlins, aber auch von u. a. Wassermann, Peter Handke oder gar Nena stammen.
Manch schöner Regieeinfall und der vielfältige Einsatz von Luftballons (vielleicht waren es sogar 99) stimmen trotzdem recht versöhnlich. Es gelingt in der Inszenierung, mittels der Geschichte Kaspar Hausers die Tücken unserer Gesellschaft und unserer Kommunikation zu veranschaulichen: Sowohl Kaspar als auch die Gesellschaft sind „das nächste Welträtsel“ und „das größte Rätsel der zivilisierten Welt“. Wir alle sind hin und wieder Kaspar, fühlen uns sprachlos, sehen uns manchmal mit der Grenze der Sprache und den übertriebenen und teils absurden Anforderungen unseres Umfelds konfrontiert. Die Botschaft kommt an, hätte aber in Dortmund noch drastischer, dynamischer und aussagekräftiger sein dürfen. Und so soll hier nun nicht – wie bei Kaspar Hauser und Die Sprachlosen aus Devil County – mit Nena abgeschlossen werden, sondern mit dem ebenfalls in der Inszenierung zitierten Konfuzius: „Wenn das, was Du sagen möchtest, nicht schöner ist als die Stille, dann schweige.“
Informationen zur Inszenierung
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