Mit Philosophie des Kletterns bringt der mairisch Verlag einen weiteren Band aus der englischen Reihe Philosophy for Everyone heraus. Im Zentrum steht die alles entscheidende Frage des Warum. Aber gibt es darauf überhaupt Antworten? Und wenn ja, sind die wichtig?
von LARS BANHOLD
Für viele, die vielleicht nicht gerade mitten in der Stadt groß geworden sind, war es der Vierkampf der Sommerferien: Fahrradfahren, Schwimmen, Fußballspielen und Klettern. Während Radfahren und Schwimmen auch für Erwachsene anerkannte Sportarten mit olympischen Ehren sind und Fußball sich weit über den profanen Status des Sports zu nicht weniger als einer Religion entwickelt hat, bleibt Klettern gemeinhin etwas Fragwürdiges.* Obwohl weder das ziellose Strampeln mit dem Zweirad noch das unnatürliche Planschen in Chlorwasser oder das Hetzen unschuldiger Lederbälle irgendwie sinnstiftend oder auch nur besonders vernünftig wäre, waren Lance Armstrong, Franziska van Almsick und Walter Frosch wohl nie unter einem ähnlichen Rechtfertigungsdruck wie der gemeine Kletterer.
Im Schatten des Rechtfertigungszwangs
Dieser Rechtfertigungszwang überschattet auch Die Philosophie des Kletterns. Schon der englische Originaltitel deutet das an: Because it’s there. Es ist das zu Tode genudelte Zitat George Mallorys, das in diesem Band immer wieder als zielloser Wiedergänger durch die Beiträge streift. Warum auf einen Berg klettern? Weil er da ist. Das ist natürlich die beste und vielleicht einzig gültige Antwort, von der aus man arbeiten kann. Leider bleiben die Texte des Bandes häufig an genau dieser Stelle stehen oder stellen die Frage nach dem Sinn sofort wieder. Es scheint, als müsste jeder Autor sich noch einmal für seine Existenz als Kletterer vor dem Weltgericht verteidigen, den vermeintlichen Schwachsinn dieses Sports eingestehen, um dann kleinlaut jede Aussage mit einem impliziten „Ja, aber“ einzuleiten.
Die Philosophie-Reihe von Blackwell, dem auch Philosophie des Kletterns entstammt, ist eigentlich deshalb so empfehlenswert, weil sie sich normalerweise eben keinem Erklärungszwang beugt. Sie weiß, dass Philosophie sich auf alles anwenden lässt: Batman, Johnny Cash, James Bond, Gartenarbeit, Kaffee, Computerspiele, TV-Serien, Alltagsgegenstände – ALLES! Es ist wie Raymond Aron zu dem jungen Sartre sagte: „Siehst Du, mon petit camarade, wenn Du Phänomenologe bist, kannst Du über diesen Cocktail reden und es ist Philosophie!“. Die Blackwell-Reihe zeigt, dass man nicht einmal Phänomenologe sein muss. Wer clever und verständig ist, kann alles mit Philosophie erklären – und die Philosophie mit allem. Anstatt, wie andere Bücher der Reihe, mit diesem Anspruch selbstbewusst ins Feld zu ziehen, scheinen die Beiträger und Herausgeber hier immer wieder von der Angst erfüllt, der Leser könnte Klettern für doof und Philosophie für nutzlos halten.
Freiheit am Seil
In Philosophie des Kletterns funktioniert dann auch leider die Anwendung nicht immer, vielleicht weil nicht jede Fragestellung einleuchtend ist, wie etwa die Ethik des Kletterns. In einer globalisierten Welt, in der der Kauf von Kleidung, Internetsuchmaschinen und das Essen von Fisch schon tiefgreifende moralische Dilemmata beinhalten, ist Klettern vielleicht eine der wenigen Tätigkeiten, deren Existenz dahingehend kein Problem darstellt. Interessant wird es aber doch, wenn Dale Murray mithilfe des Sorites-Paradoxes über Trittbrettfahrerei und ökologische Verantwortung des Kletterers diskutiert, da in vermüllten Bergen und zerschlagenen Felsen wirklich ethisch-moralische Fragen gerechtfertigt sind. Zu den spannendsten Überlegungen gehört Kevin Kreins Essay, der versucht zu erklären, wie zur Hölle gerade die denkbar unfreiste Position – an Stricken festgezurrt, mit verschwindend wenigen Handlungsoptionen über einem tödlichen Abgrund der Geistesgegenwart der Mitkletterer ausgeliefert – von vielen als Moment vollkommener Freiheit wahrgenommen werden kann. Umso schöner, dass man dabei noch was über den Stoizismus lernt. Ähnlich aufschlussreich sind Brian Treanors Überlegungen zur Selbstkultivierung durch Klettern oder Pam R. Sailors Essay über die Motivation, den Berggipfel zu erreichen.
Leider ein wenig irritierend sind die Texte, die der deutschen Ausgabe von hiesigen Journalisten beigefügt wurden. Selbst Max von Malotki, der sonst uneingeschränkt zu empfehlen ist – was ich hiermit noch einmal mit Nachdruck tue – liefert einen Text über den Dualismus beim Klettern, der im Vergleich zu den übrigen Beiträgen philosophisch flach bleibt und fehl am Platz wirkt.
Darüber, ob Klettern nun grundsätzlich sinnvoll ist oder nicht, gibt der Band keine Antwort. Im Grunde ist die Frage auch gar nicht die interessanteste, denn wer hat seit Camus überhaupt noch wirklich nach dem Sinn gefragt? Deshalb ist es ein bisschen schade, wie sehr der Band versucht, sich gerade an dieser Frage abzuarbeiten, wo er doch andere viel aufschlussreicher ausbreitet.
Interessant ist übrigens noch, dass es von Blackwell zwar einen Band zu Philosophie und Fahrradfahren, nicht aber zum Schwimmen und Fußball gibt – ein kleiner Punktsieg für die Kletterei, der ihren Anhängern vielleicht etwas mehr Selbstbewusstsein verleihen sollte.
Stephen E. Schmid, Peter Reichenbach (Hrsg.): Philosophie des Kletterns
mairisch Verlag, 224 Seiten
Preis: 19,90 Euro
ISBN: 978-3938539330
* Erst 2013 hat der IOC erneut bestätigt, dass auch bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio Klettern keine offizielle Disziplin wird.