Der ruhige Alltag der 83-jährigen Urwienerin Lucia Binar ändert sich abrupt, als sie plötzlich ihr Revier verteidigen muss: Die Große Mohrengasse, von Geburt an ihr Zuhause, soll aus politischen Gründen umbenannt werden und das Mietshaus, in dem sie eigentlich ihren Lebensabend verbringen wollte – „Anderswo stirbt es sich bestimmt nicht so leicht“ –, besiedeln plötzlich zwielichtige Gestalten. Vladimir Vertlib, österreichischer Autor mit russisch-jüdischen Wurzeln, stellt mit der energischen Lucia eine starke Frauenfigur in den Fokus des Geschehens und spart in seinem neuen Roman kein gesellschaftskritisches Thema aus – soziale Abgründe inklusive.
von ANNA-LENA BÖTTCHER
Sie zitiert am liebsten Paul Celan und wünschte, sie käme vor ihrem Tod noch einmal ohne Probleme per Leiter an die Gedichtbände ihres obersten Bücherregals. Es ist März, als es bei Lucia Binar, der pensionierten Lehrerin mit dem großen Sprachhunger, an der Wohnungstür klingelt und ihr der Student Moritz seine „Anti-Rassismus-Initiative Große Möhrengasse“ vorstellt. „Ich mag keine Karotten, besonders dann nicht, wenn sie Möhren heißen!“ Dies soll nicht der letzte wütende Ausruf der Seniorin während der sich nun rasch ausrollenden Geschichte bleiben. Schon wenige Stunden später folgt bereits die zweite Katastrophe des Tages: Am anderen Ende der Leitung verweigert eine junge überforderte Call-Center-Mitarbeiterin Frau Binar die Auskunft bezüglich des Ausbleibens ihres Mittagessens bei der sozialen Einrichtung „Rollender Esstisch a la Carte“ und empfiehlt ihr zu allem Überfluss, sich über das Wochenende doch von Mannerschnitten zu ernähren. Von wegen „Herz und soziales Gewissen“! Lucia – körperlich gebrechlich, aber geistig noch topfit – ist empört und macht sich ausgerechnet gemeinsam mit Moritz auf die Suche nach der Übeltäterin, von der sie nur eines weiß: Sie heißt Elisabeth. Und davon gibt es mehr als genug in Österreichs Hauptstadt, sodass der Roadtrip seinen Lauf nimmt…
Hauptfiguren mit starkem Willen und multikulturellem Hintergrund
Die alte Dame und Titelheldin, die nach Art schönstem Wiener Schmähs kein Blatt vor den Mund nimmt, ist bei Weitem nicht die einzige skurrile Hauptfigur in Vertlibs 300-Seiten-Roman. Die allein erziehende Mutter und Call-Center-Mitarbeiterin Elisabeth zum Beispiel – gar nicht so unsympathisch wie sie zunächst am Telefon klingt – spielt ebenfalls eine tragende Rolle für die Handlung. Dem Leser begegnet außerdem der Hausherr und korrupte Immobilienhai Willi Neff, der unter dem Deckmantel eines Sozialhilfe- und Flüchtlingsprojekts versucht, die Bewohner seines Mehrfamilienhauses in der Großen Mohrengasse gegeneinander auszuspielen. Schließlich gibt es da noch den jungen muslimischen Russen Alexander, mütterlicherseits baskirischer Herkunft, der sich in Elisabeth verliebt und ein trauriges Geheimnis seiner Vergangenheit verbirgt. Vladimir Vertlib hat selbst eine multikulturelle Biografie: Geboren 1966 in Leningrad, 1971 nach Israel emigriert und zehn Jahre später nach Österreich übergesiedelt, handeln seine Romane – wie auch sein neues Werk – oft von russisch-jüdisch-österreichischen Verflechtungen.
Ineinander verschlungene Geschichten
Die Romanfiguren begegnen einander im Laufe des Geschehens auf denkbar ungewöhnlichen Wegen, ihre Geschichten sind miteinander verwoben und reichen mitunter bis in die Wiener Geschichte der 30er Jahre zurück. Doch was hat es mit der so genannten russischen Seele auf sich? Eine Antwort darauf versucht Viktor Viktorowitsch zu geben, halb russischer Zauberer, halb schräger Selbstdarsteller, und die wohl rätselhafteste Figur in der gesamten Handlung.
Vertlibs Roman nur als komisch zu bezeichnen, wäre zu kurz gefasst. Manchmal blättert man zurück, weil man nicht glauben konnte, was man eben gelesen hat. Philosophieren in Kapitel 9 tatsächlich ein Dutzend einander eigentlich fremder Bahngäste über den Sinn des Lebens?
Die Geschichte um Lucia, Alexander und Elisabeth ist gleichermaßen gefühlvoll wie absurd, sie macht betroffen, bisweilen ist es anstrengend, ihrem verwirrenden Lauf zu folgen. Es wimmelt darin von tragischen – und magischen – Momenten, bizarren Szenen, in denen dem Leser manchmal das Lachen im Hals stecken bleibt: Ob Immobilienspekulation und Flüchtlingsdrama, Obdachlosigkeit und Ausbeutung am Arbeitsplatz, sogar die nationalsozialistische dunkle Vergangenheit der Großen Mohrengasse und die Frage, wie unsere Gesellschaft mit alten Menschen umgeht – kaum ein Abgrund unserer Gegenwart, der sich dem Leser nicht offenbart.
Furioses Finale mit sprechendem Kaninchen
Alle Fäden der Geschichte laufen im letzten Kapitel zusammen, in dem die bisher schon einigermaßen groteske Handlung mit Viktor Viktorowitschs finaler Performance noch einmal auf die Spitze getrieben wird –– und damit ist nicht nur das sprechende Kaninchen namens Karl-Friedrich gemeint. Sind das nur Zaubertricks eines Schwindlers oder weht hier tatsächlich ein Hauch von echter Magie durch die Große Mohrengasse? Soviel sei jedenfalls verraten: Die Straße heißt am Ende des Romans noch so.
Viktorowitsch sagt im letzten Kapitel zu Elisabeth: „Ich bin nichts weiter als ein Entertainer. Ein Scharlatan. Ich verkaufe Illusionen. Sie werden mir doch nicht tatsächlich erzählen wollen, dass sie an diesen Esoterik-Blödsinn tatsächlich glauben?“ Diese Frage muss sich am Ende jeder Leser selbst beantworten.