Die Kunst der Balance

Ian McEwan - Kindeswohl   Cover: DiogenesWork-Life-Balance – wieder so ein Buzzword – scheint heutzutage den Topf Gold am Ende des Regenbogens zu ersetzen. Man glaubt ganz fest, er sei dort und er müsse wundervoll sein – aber wie ihn erreichen oder gar behalten? Ian McEwans jüngster Roman handelt auf elegante Weise davon, dass Balance kein statischer Zustand (und mithin kein Topf Gold), sondern grundsätzlich dynamisch ist. Ganz entgegen dessen, was der Titel Kindeswohl vermuten lässt, braucht es nicht einmal (eigene) Kinder, um sicherzustellen, dass man ständig in Bewegung bleiben muss, um ein Gleichgewicht herzustellen.

von SOLVEJG NITZKE

Ian McEwan gehört wohl zu den erfolgreichsten britischen Autoren der Gegenwart. Daran lässt nicht nur der Klappentext seines neuen Romans keinen Zweifel, und wenn erst einmal einer der eigenen Romane mit Keira Knightley verfilmt wird, muss man sich wohl keine Sorgen mehr um Buchverkäufe machen. Das kann allerdings auch – insbesondere, wenn in verlässlichem Rhythmus von zwei bis drei Jahren ein neuer Roman erscheint – einiges Misstrauen erregen, was die ‚tatsächliche‘ Qualität der Bücher angeht. Unbegründet! So viel kann gleich zu Beginn vorweggenommen werden, McEwans Bücher halten, was sie versprechen. Jedoch gibt es auch hier Unterschiede, die an Kindeswohl (engl. The Children Act) auf angenehmste Weise zum Vorschein treten, weil es sich bei diesem Roman ganz eindeutig um einen der eleganteren und unterhaltsameren Texte des Briten handelt.

Erschütterung des Status Quo

In vielerlei Hinsicht handelt es sich bei Kindeswohl um das Gegenstück zu McEwans Roman Saturday (2005). Wie in letzterem dreht sich auch dieser Text um das eigentlich bereits gut situierte Leben eines Londoner „professionals“ mittleren Alters – hier einer hochrangigen Familienrichterin, dort eines nicht minder erfolgreichen Neurochirurgen. An einem Punkt, nicht gerade am Ende einer Karriere, sondern eher etwa zehn Jahre davor, folgen beide Erzählungen den alltäglichen, von Sicherheit geprägten Lebenswegen ihrer Hauptfiguren und deren Familien. Doch auch hier muss, wenn auch weniger spektakulär als in Saturday, das Gewohnte einer Situation weichen, die droht, das komplexe Gefüge des scheinbar so sicheren Lebens ins Wanken zu bringen.

Fiona Maye, respektierte und bewunderte Richterin, ist es gewohnt, Entscheidungen zu treffen, nicht vor Ultimaten gestellt zu werden. In ihrer über drei Jahrzehnte andauernden Ehe mit einem Altphilologen ist ihr noch keine vergleichbare Situation untergekommen: Ihr Mann bittet sie um die Erlaubnis, eine Geliebte zu nehmen. McEwan gelingt es auf beeindruckende Weise, die Innensicht seiner Protagonistin auf diese vorsichtig ausgedrückt verwirrende Situation in der Waage zu halten und sie nicht in eines der gängigen Klischees weiblichen Verhaltens zu pressen. Fiona, Kopfmensch durch und durch, erkennt schnell, dass ihr Wissen um die kläglichen Abgründe der von ihr tagtäglich verhandelten Scheidungsfälle ihr nichts oder wenigstens nicht viel nützen wird, wenn es um sie selbst geht. Trotzdem bricht sie weder ‚hochemotional‘ zusammen, noch wird sie, um die Klischees dann auch zu benennen, ‚kalt wie ein Fisch‘. Sie tut, was man tun kann, wenn man eine anspruchsvolle Aufgabe hat, und stürzt sich in die Arbeit. So ganz trennen lassen sich die Sphären allerdings nicht, wie Fiona (auch retrospektiv) erkennen muss. Ein vergangener Fall – die Entscheidung über die Trennung von siamesischen Zwillingen – scheint bereits ihr Verhalten zu Hause beeinflusst zu haben und nun wählt sie in einem aktuellen Fall – der Entscheidung, einen minderjährigen Zeugen Jehovas gegen seinen und den Willen seiner Eltern mit Blutkonserven behandeln zu lassen – einen Weg, der sie in engeren Kontakt mit den Folgen ihrer Urteile bringt, als ihr lieb sein kann.

High-Achiever

Zu den Ausgängen und Folgen der Fälle sei nichts weiter gesagt und stattdessen die Lektüre dieses Romans ausdrücklich empfohlen. Die Themen sind nicht neu, aber selten widmet sich eine Erzählung dem vermeintlich so trockenen Recht, ohne dabei gleich in sein effekthascherisches Gegenteil zu verfallen. Es ist tatsächlich äußerst spannend, Fionas Urteilsbegründungen zu verfolgen und dabei zu sehen, wie sich Gesetz und persönliches Ermessen in dieser außerordentlich klugen Frau treffen, die sich ihrer eigenen Fehlbarkeit dabei stets bewusst bleibt. Sicher, wie Saturday lässt sich auch dieser Roman McEwans aufgrund einiger impliziter, z. T. deterministisch anmutender Thesen über seine Figuren kritisieren – dass Fionas Fehlbarkeit sich in sehr engen Grenzen hält, ließe sich als Beispiel anführen –, ebenso wegen seines Fokus auf die Erfolgreichsten der britischen Gesellschaft. Das tut seiner Unterhaltsamkeit und seiner äußerst präzisen Erforschung eines gegebenen Charakters in dessen Umfeld keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Mit ein wenig kritischer Distanz, die natürlich beim Lesen nie unangebracht ist, erzählen McEwans Geschichten über die Grenzen der einzelnen Texte hinaus von einem Milieu und dessen Bemühungen, das zu führen, was man wohl ein gutes Leben nennt. Anders als Michael Beard (Solar, 2010) und Serena Frome (Honig, 2013) läuft Fiona niemals Gefahr, sich aufgrund übersteigerter Ambitionen oder frivoler Mädchenträume lächerlich zu machen, so dass es nie schwer fällt, sie ernst zu nehmen. So gut Solar und Honig sein mögen, das ständige Streben nach mehr wird auch beim Lesen anstrengend. Kindeswohl spiegelt den eleganten und klugen Charakter seiner Hauptfigur innerhalb eines komplexen Gefüges von Pflichten und Beziehungen, das wegen der Stärke seines Zentrums, obschon immer wieder gefährdet, nie droht, endgültig aus dem Gleichgewicht zu geraten. Das allein sollte als hinreichendes Kriterium gelten, dieses Buch auf die diesjährige Lektüreliste zu setzen.

 

Ian McEwan: Kindeswohl
Diogenes, 224 Seiten
Preis: 21,90€
ISBN: 978-3257069167

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