In Der lange Sommer der Theorie erzählt der Berliner Kulturhistoriker Philipp Felsch die Geschichte des kleinen Westberliner Merve Verlags, dessen bunte Theorie-Bändchen schon seit Langem Kultstatus besitzen. Anhand der Erfolgsgeschichte dieses Verlags gelingt es dem Autor in fesselnder Manier, einem Phänomen historische Anschaulichkeit zu verleihen, das heute nur mehr in Hörsälen und Seminarräumen ein immer kläglicheres Dasein zu fristen scheint, aus der linksintellektuellen Szene der 60er bis 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts aber nicht wegzudenken ist: der Theorie-Euphorie.
von BERNHARD STRICKER
Der Ruf nach mehr Praxisorientierung in der universitären Ausbildung und unmittelbar berufsqualifizierenden Studiengängen erhebt sich nicht erst seit Kurzem immer wieder von Neuem. Er hat uns bereits die Bologna-Reformen eingebracht, und nun kleidet sich auch das Unbehagen an deren Folgen gern in das Gewand eines Plädoyers für (noch) mehr Praxis im Studium. Das Wort „Theorie“ erhält unter diesen Bedingungen einen eher pejorativen Beigeschmack. Umso erfrischender aber wird man als Leser Philipp Felschs Rückblick auf eine Zeit empfinden, als der Ausdruck „theoretische Praxis“, den Althusser prägte, nicht als Paradox empfunden wurde, vielmehr Praxis ohne Theorie gar nicht denkbar erschien. Erfrischend im wahrsten Sinne des Wortes kommt dieses Buch auch deshalb daher, weil es dem Autor gelingt, anspruchsvoll und doch zugleich so benutzerfreundlich zu schreiben, dass Der lange Sommer der Theorie sich tatsächlich auch im Freibad lesen lässt – ohne dabei ins Schwitzen zu kommen. Nun mag manch einer sagen, wo und wie man ein Buch lese, sei doch unerheblich und schließlich jedem selbst überlassen – auf die Inhalte komme es an! Schließlich begreife man Platon nicht besser, weil man in einem Flugzeug sitzt, und Wittgenstein könne auch auf dem stillen Örtchen nicht unverständlicher werden. Philipp Felsch zeigt hingegen, dass das so einfach nicht stimmt, sondern dass vielmehr die Orte, Gebrauchsweisen, Zirkulationsmodi und Rezeptionskanäle von Texten in eminenter Weise deren Bedeutung mitbestimmen.
Der Leser als Held
Der lange Sommer der Theorie erzählt eine Geschichte von Lesern, insbesondere eines Lesers, Peter Gente (1936–2014), der 1970 den Merve Verlag gründete und bis 2007 leitete. Dem Umstand, dass der Verleger, um sich seinen Lebensabend in Thailand zu finanzieren, seine Papiere an ein Archiv verkaufte, verdanken wir Philipp Felschs Buch. Eine Aufwertung der Leser-Perspektive ist nicht nur das Ergebnis poststrukturalistischer Diskurse – wie etwa des berühmten Diktums vom „Tod des Autors“ (Roland Barthes) –, an deren Verbreitung in Westdeutschland der Merve Verlag ganz wesentlichen Anteil hatte. Vielmehr verstanden sich Peter Gente, seine langjährige Lebensgefährtin Heidi Paris und das Verlegerkollektiv, aus dem Merve entsprungen ist, selbst stets vorrangig als begeisterte Leser, und der Verlagsnachlass trägt die Züge eines „Archiv[s] eines epischen Leseabenteuers“. Das erlaubt Philipp Felsch, seine Theorie-Geschichte nicht als klassische Ideengeschichte aufzuziehen, sondern als Geschichte eines Rezeptionszusammenhangs. Seine Darstellung „aus User-Sicht“ steht damit in der Tradition einer Historiographie, die gelernt hat, dass Ideen und Gedanken sich nicht außerhalb und unabhängig von gesellschaftlichen Praktiken, Medien und Institutionen entwickeln und entfalten. Dabei geht es darum, wie Philipp Felsch – Foucault zitierend – sagt, „die Analyse des Gedachten stets mit der Analyse des Geschehens“ zu verknüpfen. Dass das nicht bloß funktioniert, sondern wie nebenbei auch eine neue Perspektive auf die Geschichte Westberlins, der Neuen Linken oder der Terrorgruppe RAF auftut, führt Der lange Sommer der Theorie eindrucksvoll vor. Nicht zuletzt aber schreibt Philipp Felsch damit auch „ein Kapitel [s]eines eigenen Bildungsromans“, wie er sagt – und desjenigen wer weiß wie vieler seine Leser, die mit Foucault, Baudrillard und Deleuze sozialisiert worden sind. Gleichwohl ist es kein bloß nostalgischer Blick, den der Autor auf das Theorie-Phänomen wirft.
„Was war Theorie?“
So lautet die Überschrift der Einleitung, während ursprünglich einmal das ganze Buch so betitelt sein sollte. Man darf die Provokation nicht überhören, die für manch einen Leser in dem Präteritum enthalten sein mag, mit dem hier über Theorie als „Genre“ und als Phänomen der Vergangenheit gesprochen wird. Die Historisierbarkeit von Theorie(n) der jüngeren Vergangenheit liegt Felschs Buch nicht nur als Anspruch zugrunde, sie wird von ihm auch in der Tat vorgeführt. Aber ist damit auch die Behauptung verbunden, Theorie (im Singular) sei nunmehr passé und andere Dinge an der Tagesordnung? Diese Frage wird sich sicherlich nicht beantworten lassen, ohne den besonderen sound von Felschs Darstellung in Betracht zu ziehen. Deren Sprache gleicht sich manchmal mimetisch ihren Gegenständen, den Theorien, an, um dann wieder ironische Distanz zu bekunden. Eine eigentümliche coolness eignet diesem Stil, der zugleich eine Abhängigkeit von den Texten, denen er sich widmet, eingesteht und seinen Abstand davon spürbar werden lässt. Unterschiedliche Lesersensibilitäten mögen davon auf unterschiedliche Arten berührt werden, und was in manchen Ohren nach anteilnehmenden Reminiszenzen klingt, wird von anderen als Abschiedsgeste aufgefasst werden.
Theorie-Begeisterung und Erzählung
Jeder hat wahrscheinlich als Kind einmal erlebt, wie es war, wenn man ein neues Spielzeug oder eine neue Hose hatte, und dann bekamen diese Dinge plötzlich den ersten Kratzer oder die erste kleine Macke. „Das ist eben ein Gebrauchsgegenstand“, sagten die Erwachsenen einem dann zum Trost. Gebrauchsgegenstände, so sollte das heißen, können schon den ein oder anderen kleinen Schaden vertragen, sie sind deswegen nicht gleich unbrauchbar. Vielleicht gilt das auch für Theorie. Was Philipp Felsch in seinem Buch jedenfalls zeigt, ist die Langlebigkeit und Wandelbarkeit von Theorie: Von einer durch Adorno und die Frankfurter Schule dominierten „Suhrkamp Culture“ (George Steiner) der späten 1960er Jahre ausgehend, zeichnet er den Weg nach, der den Merve Verlag über die Verbreitung französischer Denker wie Lyotard und Deleuze in den 1970ern schließlich hinführt zur Veröffentlichung von Autoren wie Friedrich Kittler und Niklas Luhmann in den 1980ern. Dabei wandeln sich nicht nur die Inhalte von Theorie und ihre Stile, sondern auch ihre Gebrauchsformen und die Arten der mit ihnen einhergehenden Vorstellungen von Lektüre, politischem Handeln oder verlegerischer Praxis. Wenn mittlerweile zahlreiche Texte der internationalen Gegenwartsliteratur davon zeugen, dass ihre Autoren selbst von Theorien der vergangenen fünfzig Jahre „begeistert“ sind (in dem Sinne, in welchem Hölderlin „Begeisterung“ als Übersetzung von „Inspiration“ verstehen kann), dann geht der Trend vielleicht zusehends von einer Theorie des Narrativen zu Narrationen von Theorie über. In diesen Trend der Narrativierung von Theorie schreibt sich folglich auch Phillip Felschs Buch ein.
Lang lebe der Merve Verlag!
Wenngleich somit eine bestimmte Art von emphatischem Theorieverständnis uns von den 1960er bis 1990er Jahren eher trennt als dass sie uns damit verbindet, so wird damit noch lange nicht der „Tod der Theorie“ beschworen. Beim Schreiben seines Buchs hat Philipp Felsch viele der von einer bunten Raute gezierten Bände der Reihe Internationaler Merve Diskurs wieder zur Hand genommen, die er zuletzt in den 1990er Jahren gelesen hatte. Auch als Einladung zu einer solchen (Re-)Lektüre, einer Neu-Aneignung der Theorie-Diskurse darf seine Geschichte daher verstanden werden. Der Merve Verlag jedenfalls besteht auch nach dem Tod seines Gründers Peter Gente fort, unter der neuen Leitung von Tom Lamberty. Möge das auch für seine Leserschaft gelten.
Finden wir gut, aber warum nicht bei Merve selbst erschienen? 😉