Psychoanalyse des Islam

Slavoj Žižek - Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne   Cover: UllsteinDer slowenische Psychoanalytiker, Philosoph und kulturkritische Berserker Slavoj Žižek legte im März bei Ullstein sein neuestes Buch vor: Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne. Darin setzt er sich mit dem radikalen Islamismus und der liberalen Demokratie auseinander. In gewohnt alles zermalmender, psychoanalytischer Argumentationsweise entblößt er die Widersprüche des Islam und zugleich die Hypokrisie westlicher Politiker, die die von ihnen gepredigten Werte permanent selbst unterlaufen.

von JONAS PODLECKI

Wenn es stimmt, dass Gewalt erst dann ausbricht, wenn die Macht bröckelt, wie Byung-Chul Han in seinem Buch Hegel und die Macht schreibt, dann stünden die säkularen Formen islamischer Staaten vor ihrem Zerfall. Denn der Zustrom dschihadistischer Krieger in den Islamischen Staat hält an und die Anzahl terroristischer Anschläge in den arabischen und nordafrikanischen Ländern, wie kürzlich in Tunesien und in Kuwait, nimmt zu. Kann man in diesem Zusammenhang von einer Krise des Islam sprechen? Sicherlich ist dies nicht auszuschließen, doch verfehlt es den Kern des Problems.

In seinem aktuellen Essay Blasphemische Gedanken behauptet Slavoj Žižek, dass am islamischen Fundamentalismus nicht allein die fehlgeleitete Modernisierung des Islam schuld ist, sondern auch die liberale Demokratie westlicher Prägung. Mit seinem Beharren auf anthropophilen Werten (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) und der Uneinlösbarkeit einer allumfassenden Toleranz begünstigt der Westen radikalislamische Tendenzen, zumal offenkundig ist, dass der Westen seinerseits, im Zuge der Globalisierung, die Dritte Welt ausbeutet und knechtet. „Das Problem mit den Fundamentalisten besteht nicht darin, dass wir glauben, sie seien uns unterlegen, sondern darin, dass sie sich insgeheim selbst für unterlegen halten. Deshalb macht sie unsere herablassende, politisch korrekte Zusicherung, wir hegten ihnen gegenüber keinerlei Überlegenheitsgefühl, nur noch wütender und ressentimentgeladener.“ In der Jovialität des Liberalismus gedeiht der islamische Fundamentalismus. Die Toleranz erhöht die Intoleranz. So kann die Demokratie ihre grundlegenden Werte vor den Angriffen der Terroristen nicht verteidigen. Sie bedarf der Hilfe, nämlich der Unterstützung einer neuen radikalen Linken. Žižek setzt damit zu einem Rundumschlag an. Indem der bekennende Kommunist die Kraftlosigkeit der liberalen Demokratie kritisiert und die Paradoxien des Islam aufdeckt, spielt er beide Seiten gegeneinander aus, um das Resultat für seinen Kampf gegen den Kapitalismus nutzbar zu machen. Gelingt ihm dieser essayistische Salto mortale? – Erfreulicherweise ja, jedoch nicht immer ganz überzeugend.

Verführter Fundamentalismus – fundamentalistische Verführung

Was den authentischen Fundamentalisten von dem Pseudofundamentalisten unterscheidet, ist seine Gefasstheit, das heißt, „die Abwesenheit von Ressentiment und Neid, die tiefe Gleichgültigkeit gegenüber der Lebensart der Ungläubigen.“ In ihrem Krieg gegen den westlichen Hedonismus zeigen islamistische Terroristen ihre tiefe Abhängigkeit vom Liberalismus. Indem sie angreifen, was sie uneingestandenermaßen begehren, binden sie sich (häufig bis zum Tode) an das, was sie bekämpfen. Anstatt sich Gott tatsächlich, wie der Islam es fordert, vollkommen hinzugeben, folgen sie radikalislamistischen Führern und untergraben so ihren Glauben. Wie effektiv aber kann ein Oberhaupt sein, das gegen Liberalismus und Hedonismus hetzt, zugleich aber (vermeintlich) eine teure Schweizer Uhr trägt und seine Propaganda hauptsächlich über das Internet verbreitet, der also das zerstört wissen will, was er insgeheim verkörpert? In Wahrheit hat die Globalisierung den Islam längst erfasst. Die Rückkehr zu vormodernen Traditionen, auf die sich die Fundamentalisten stützen, scheint (so zumindest) unerreichbar. Das ideologisch-politisches Programm der Fundamentalisten liegt daher weniger in einem ultratraditionellen Islam als vielmehr in einer klaren Hierarchisierung des Alltags, und zwar in der Regulierung von Religion, Bildung und allem voran der Sexualität.

Talal Asad definiert Verführung als Verfahren, „jemanden dazu zu verleiten, sein innerstes Selbst für die Bilder, Klänge und Worte des Verführers zu öffnen, und den so – mit oder ohne sein Zutun oder Wissen – Verführten an ein Ziel zu führen, dass das des Verführers ist.“ Wie frei ist ein Mensch, der im Alltag ständig dazu angestiftet wird, zu konsumieren? Žižek konstatiert, dass die liberale Freiheit darin bestehe, von anderen manipuliert zu werden, was zu dem Schluss leite, „dass das liberale System von Natur aus pervers und korrumpiert ist, da es sich für sein normales Funktionieren auf genau die Untugenden stützen muss, die es öffentlich beklagt.“ Nicht anders verhält es sich aufseiten der Fundamentalisten, schließlich sind die Propagandapraktiken des Islamischen Staates nichts anderes als eine Form ideologisch-religiöser Verführung. Die radikalen Islamisten gehen aber noch weiter. Für sie ist die Verführung schlimmer noch als eine Vergewaltigung, bei der die Seele des vergewaltigten Opfers, im Gegensatz zur sexuellen Verführung (des Mannes durch die Frau), rein bleibt. Wenn der liberale Westen, in dem die Frauen Hotpants und bauchfreie Tops tragen, übersexualisiert ist, wie beurteilt man dann eine Welt, in der die klackernden Schuhabsätze einer vollverschleierten Frau als sexuelle Provokation angesehen werden? Gewissermaßen, und so merkwürdig dies klingt, sind islamischer Fundamentalismus und demokratischer Liberalismus zwei Seiten ein und derselben Medaille: der Medaille des Begehrens.

Unterdrückter (femininer) Ursprung

Was also ist nun „dieser beunruhigende Exzess“, der Islam, und woraus entspringt seine älteste Tradition? Um das „Archiv des Islam“ zu durchsuchen, um seine geheime, obszöne, verborgene Mythologie zu ergründen und die verdrängte wahre Geschichte offenzulegen, bedient sich Žižek der lacanschen Psychoanalyse. Im Gegensatz zum Judentum und Christentum schließe der Islam Gott aus der väterlichen Logik aus. „Allah ist kein Vater, nicht einmal ein symbolischer – Gott ist eins; er ist weder geboren, noch bringt er Geschöpfe zur Welt. Es gibt keinen Raum für eine Heilige Familie im Islam.“ Mohammed war Waise, und der Islam betont stets diesen seinen Waisencharakter: Wenn die Familie versagt, schreitet Gott ein (als absolute Transzendenz) und befreit den Verlassenen. So ist Allah „der unmöglich-reale außenstehende Vater“ und daher befindet sich zwischen Mensch und Gott eine „genealogische Wüste“ (Fethi Benslama). An diesem Ort, der keine familiäre Gemeinschaft ermöglicht, gründet das Politische, das mit dem Islam fest verwurzelt ist. Die politische Struktur äußert sich entweder in der Gründung eines theokratischen Staates oder in antistaatlichen Tendenzen, das heißt: Terroranschläge in säkularisierten und nichtislamisch regierten Ländern.

Das verdrängte Geheimnis ist jedoch nicht die Politisierung, sondern das Trauma des Urereignisses. Der Ursprung der Religion liegt nämlich im Glauben einer Frau. Žižek entfaltet die Entstehungsgeschichte des Islam aus der vergleichenden Genealogie von Judentum und Islam. Isaak, Urvater der Juden, entstammt der unbefleckten Empfängnis von Sara(i), Abrahams Ehefrau. Ismael dagegen, Ahnherr der Araber, ist der Sprössling von Hagar, einer Sklavin, die Abraham (selbst) schwängerte, weil seine Frau (da noch) keine Kinder bekommen konnte. Hagar nun wird verstoßen, irrt halb verhungert durch die Wüste und überlebt nur dank des rettenden Eingriffs Gottes. „Damit kündigt Hagar den mystischen/weiblichen Zugang zu Gott an“ (wie er beispielsweise im Sufismus ritualisiert ist). Während die Bibel diese Geschichte vermerkt (1. Mose 21, 9-19), wird sie im Koran verschwiegen – verdrängt als traumatisches Ereignis. Die zweite wichtige Frau im Islam ist Chadidscha, Mohammeds erste Frau, die ihm den Weg zu Gott offenbart, indem sie sich vor der Vision eines Engels entschleiert und so die Selbstzweifel ihres Mannes tilgt. Der Glaube Mohammeds an Gott gründet im Glauben seiner Frau an ihn als Propheten. Ihr Wissen geht seinem voraus. Žižek sieht in der Frau nun den unterdrückten Ursprung des Islam und zugleich den Ursprung der Unterdrückung der Frau (im Islam). Anders als gemeinhin angenommen, ist der Islam wesentlich femininer als er sich öffentlich gibt.

Verhüllt verhüllte Wahrheit?

Die Frau ist also ein „ontologischer Skandal“. Ihre öffentliche Enthüllung beleidigt nicht nur Gott, sondern eröffnet auch den Blick auf den verborgenen wahren Anfangsgrund dieser Religion. Soweit kann man Žižek folgen. Vertrackt wird es allerdings, wenn es um die doppelte Maskierung geht: „[D]ie Wahrheit selbst muss, um zu gewinnen, in einer doppelten Täuschung inszeniert werden.“ Das heißt: „Während ein Mann nur vortäuschen kann, eine Frau zu sein, kann allein eine Frau vortäuschen, ein Mann zu sein, der vortäuscht, eine Frau zu sein, so wie nur eine Frau vortäuschen kann, das zu sein, was sie ist (eine Frau).“ Im Endeffekt läuft dies darauf hinaus, dass die Frau sich selbst spielt, und in diesem Spiel des Frauseins geht ihr Sein als Frau verloren. Sie entinnerlicht (und entwahrheitet) sich in die Inszenierung und verbirgt damit etwas, das nicht existiert. Sie wird allein zur Verbergenden und so zur Projektionsfläche für den Mann, der in ihr genau das erblickt, was er begehrt. Zugleich aber, schreibt Žižek, liegt in der Verschleierung der Frau ihre Identität als Muslimin. Bedeutet dies nun, dass die freiwillige Verschleierung – und somit die Annahme der muslimischen Identität der Frau – die Bejahung einer solchen Entfrauung ist? Natürlich nicht, doch Žižek entfaltet ein Bündel von Thesen, die den Kern, um den herum sie angelegt sind, zuweilen selbst verfehlen. Lässt man sich aber auf die recht kryptische lacansche Psychoanalyse ein, erzeugt dies durchaus frappierende Einsichten in die (verdrängten) Urgründe des Islam.

Schwer zu sagen, wie dieses Buch den Leser zurücklässt. Frustriert, enttäuscht, überrascht – alles ist möglich bei der Lektüre dieser „Streitschrift“. Sicher aber ist, dass Slavoj Žižek mit diesem Buch wieder einmal seinen Status als einer der einflussreichsten und faszinierendsten Denker unserer Zeit bestätigt.

 

Slavoj Žižek: Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne
Ullstein, 64 Seiten
Preis: 4,99€
ISBN: 9783550081163

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