Jonathan Löffelbeins Erzählung Besucher ist im Kern ein Text über einen jungen lebensmüden Menschen auf der Suche nach Sinn und der Fähigkeit, sich zu entscheiden. Was nach hundertmal gehört klingt, ist dank des Muts des Autors und der neuen Wege, die er beschreitet, ein gelungenes Debüt, das stellenweise zu hoch hinaus will, aber in jedem Fall eine lohnenswerte Lektüre darstellt.
von SIMON SAHNER
Fangen wir nicht mit Jonathan Löffelbein an: Anfang dieses Monats nahm die 23-jährige Journalistin und Schriftstellerin Ronja von Rönne am Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis teil. In der anschließenden Diskussion kritisierte das Jurymitglied Meike Feßmann, sie habe einen solchen Text über adoleszente „Dekadenzbeschwörung“ schon zu oft gehört und verglich den ersten Satz aus von Rönnes Text („Ich wache auf und mir ist schlecht […]“) mit Christian Krachts Debütroman Faserland, der mit einem fast identischen Satz beginnen würde. Nicht nur weil Krachts erster Satz dem von Rönnes nicht im Mindesten ähnelt, wäre es besser gewesen, den ersten Satz von Jonathan Löffelbeins Erzählung Besucher als Vergleich heranzuziehen: „Es war ein friedlicher Morgen, als Thomas beschloss sich umzubringen.“
Schaut man sich die Themen von Löffelbeins Erzählung oberflächlich an, scheinen die beiden Texte nur wenig gemein zu haben: Thomas, ein 23-jähriger Student, beschließt eines Morgens, seinem Leben ein Ende zu setzen, doch bevor er den Plan in die Tat umsetzen kann, erscheint in seiner Wohnung ein Besucher. Der mephistophelische Gast in Thomasʼ Wohnung macht ihm einerseits klar: „Ich bin nur hier, um zu helfen“, andererseits zeigt er kaum Mitleid mit Thomasʼ Lebenssituation und verdeutlicht ihm, dass er, Thomas, einen Menschen umbringen solle. Was dann folgt, ist ein Parforceritt durch zweieinhalb Tage im Leben des Protagonisten, an dessen Ende alle Grenzen des Vorstellbaren aufgelöst sind.
Kinderbuch und Kanon – ungewöhnliche Vorbilder
Warum also der Vergleich mit von Rönnes Erzählung Welt am Sonntag? Weil auch der ebenfalls 23-jährige Jonathan Löffelbein über einen verzweifelten jungen Menschen im Gegenwartsdeutschland schreibt. Thomasʼ Vater ist gerade verstorben, er ist in die Freundin seines arroganten Bruders verliebt und hat eigentlich genug von der Welt. Betrachtet man Besucher von dieser Seite aus, so reiht sich die Erzählung ein in die Darstellung junger deutscher Männer und Frauen, die mehr oder weniger frustriert an der Schwelle zum Erwachsensein stehen, vorrangig ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen und sich nicht entscheiden können. Doch das ist nur die Oberfläche von Löffelbeins Erzählung. Bereits auf der zweiten Seite des Prologs werden durch die Nennung von vier Klassikern der Weltliteratur der Ton und die Themen gesetzt, die diese Erzählung tragen werden. Thomas erhöht den niedrigen Tisch in seiner Wohnung mit vier Büchern: „Irgendetwas von Nietzsche […], die Bibel, Faust und […] die kleine Raupe Nimmersatt.“ Die faustische Ausrichtung der Handlung gepaart mit nietzscheanischem Nihilismus wird schnell deutlich: Der lebensmüde Protagonist wird von einer finsteren, aber ungemein eloquenten Gestalt mit übersinnlichen Kräften begleitet, die immer wieder versucht, Thomas zum Bösen zu verleiten. Dementsprechend ist der Besucher auch übersäht mit Anspielungen auf Goethes Klassiker, die mal geschickt eingeflochten sind, wenn beispielsweise ein Pudel totgefahren auf der Straße liegt, mal aber auch ein bisschen zu offensichtlich sind, wenn der namenlose Besucher darüber philosophiert, wie Thomas es mit der Religion halte. Darin liegt auch eine Gefahr von Löffelbeins Erzählstrategie, die etlichen Verweise auf Klassiker der Weltliteratur sind für Germanisten witzig zu entdecken, wirken aber stellenweise zu gewollt.
Hervorragende Dialoge, inhaltlich hoch hinaus
Dass diese recht konventionelle Geschichte nicht langweilig wird, liegt unter anderem an Löffelbeins Stil, und an dieser Stelle kommt die Raupe Nimmersatt ins Spiel. Mit einer recht einfachen Sprache, die teilweise an Jugendliteratur erinnert, wiegt Besucher den Leser in Sicherheit, eine Sicherheit, die durch plötzliche Ausbrüche von Gewalt und ungeschönte Dialoge immer wieder durchbrochen wird. Während die erzählenden Passagen teilweise etwas überladen mit Adjektiven und stilistisch nicht ganz treffsicher nicht immer die Kurve kriegen, sind Löffelbeins Dialoge und die langen Redeanteile der Figuren seine größte Stärke, insbesondere der mephistophelische Besucher trifft einen Ton, der teilweise hart, aber durchaus glaubwürdig ist: „‚Ah‘, seufzte der Fremde, ‚Kinderspielplätze! Der Ort für Entführungen und gut versteckte Hundescheiße!‘“ Der Humor, der in den langen Monologen und schlagfertigen Äußerungen liegt, und die Verwurzelung in der referenzbeladenen Netzkultur der Gegenwart tragen viel zum Gelingen der Erzählung bei.
Bleibt noch die Bibel aus dem Quartett der Weltliteratur. Besucher jongliert mit großen Themen: Tod, Sinn des Lebens und Philosophie. Die Erzählung, die zu Anfang mit diesen Themen souverän und leicht startet, driftet gegen Ende zu sehr ins Mystische ab und droht immer wieder auszufransen. Die realitätsverzerrenden, teilweise an die absurde Überdrehtheit eines David Lynch erinnernden, teilweise kafkaeske Züge annehmenden, fantastischen Passagen sind bis ins letzte Drittel überaus gelungen, verlieren zuletzt aber stellenweise den Faden.
Wir leben wieder im Barock
Zu von Rönnes Bachmann-Auftritt zurückkommend, bleibt zu sagen, dass Löffelbein in gewisser Weise auch eine Erzählung über die feiernde Generation Y auf der Suche nach Entscheidung und Sinn geschrieben hat, sich dabei aber wesentlich mehr getraut hat, das Thema innovativer umgesetzt hat und ein gelungenes Debüt abgeliefert hat, das ebenso gelungene Worte für die Weltsicht der Twentysomethings gefunden hat: „Ihr lebt noch alle im Barock. Die Menschen stürzen sich in den bedingungs- und sinnlosen Exzess, um zumindest für ein paar Stunden zu vergessen, dass sie selbst an nichts mehr glauben. […] Ihr sehnt euch nach Sinn und seht in die Welt und erkennt: Unsinn. Und der Unsinn wird im Rausch zu Schwärze. Denn ihr seid blind. Und so seid ihr, nach Jahrhunderten wieder doch nur im Barock gelandet und feiert um eurer Ohnmacht willen.“
Ach ja, Löffelbein war auch für den Wettbewerb um den Bachmann-Preis vorgeschlagen. Sie hätten ihn lesen lassen sollen.
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