„‚Scheiße‘, war das einzige Wort, das mir über die Lippen kam.“ In diesem Ausdruck von Selbsterkenntnis muss man wohl den kathartischen Moment in Rolf Bauerdicks Roman Pakete an Frau Blech erkennen, einem Unterhaltungsroman über die deutsch-deutsche Geschichte und ihre Nachwehen. In zwei eng miteinander verwobenen Erzählsträngen verbindet der Autor die Lebensgeschichte des Maik Kleine und die Zeitläufe des bundesdeutschen Weltgeschehens miteinander. Doch Vorsicht: Diese unscheinbare Geschichte ist ein vergiftetes Geschenk.
von PETER GOSSENS
Maik Kleine übersiedelt als 13-Jähriger aus der ehemaligen DDR ins westdeutsche Heidelberg, zu seiner Tante. Er ist der einzige Überlebende eines Familiendesasters, bei dem seine beiden kleineren Geschwister verbrannt sind und seine Mutter – als Brandstifterin – in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wurde. Der Vater starb schon vor Maiks Geburt. Nur ein Zufall rettete im Schneekatastrophen-Winter 1979 Maiks Leben, und ein weiterer Zufall führte ihn dann nicht in ein Kinderheim in der DDR bzw. in die vielleicht naheliegende Zwangsadoption, sondern zu seiner Tante Vera bzw. Veronika, die einige Jahre zuvor aus der DDR nach Heidelberg gezogen ist und dort als Kuratorin im Apothekenmuseum arbeitet. Kaum bei seiner Tante angekommen, kommt diese bei einer Autofahrt ums Leben – ein unerklärlicher Suizid. Maik wird seine Jugend in einem jesuitischen Internat verbringen, das er dann 1983 mit einem vorbeireisenden Zirkus – ‚Junger Mann zum mitreisen gesucht‘ − verlässt.
Der zweite Erzählstrang spielt im August und September 2007: Der ehemalige Zirkusdirektor Alberto Bellmonti ist gestorben und wird mit einer großen Prozession auf dem Friedhof der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde beigesetzt. Einer der letzten prominenten Toten, die auf diesem Friedhof beigesetzt wurden, ist bekanntlich Markus Wolf, der ehemalige Leiter des Auslandsnachrichtendienstes der DDR. Nun also auch noch ein ehemaliger Zirkusdirektor. Doch schon kurz nach der Beerdigung wird Bellmontis Grab verwüstet. Für Maik und die übrigen Freunde Anlass genug, den Spuren der verdeckten Doppelidentität des väterlichen Freundes nachzugehen. Die Lebensgeschichte von Maik ist – wie nicht anders zu erwarten – eng mit den Machenschaften der Stasi verbunden, in die Bellmonti, aber auch Maiks früh verstorbener Vater, seine Mutter und seine Tante, und zudem zahlreiche andere Personen aus seinem Umfeld verstrickt waren.
Vom Familiendrama zum Kriminalfall
Beide Geschichten werden lange Zeit wechselseitig erzählt, bis die Frage, wer für den Tod von Maiks Geschwistern verantwortlich war und was zum Suizid der Tante führte, unhintergehbar auf dem Tisch liegt. Von diesem Moment an verbleibt die Erzählung im Jahr 2007. Aus einem Familiendrama und der merkwürdigen Begebenheit einer Beerdigung in einer Post-DDR-Kultur wird so ein Kriminalfall, bei dem es um die Machenschaften der Stasi ebenso wie um einen Mord aus Eifersucht und religiöser Verblendung geht.
Ein Unterhaltungsroman, so belehrt uns schon Gero von Wilpert, sei „unterhaltende Literatur von geringem, aber durchaus vorhandenem literarischen, geistigen oder künstlerischen Anspruch, die jedoch nicht in erster Linie dichterische Seinserhellung oder ästhetische Theorien verkörpern, sondern den Lesergeschmack und den Fragen des breiteren Publikums gerecht werden will“. Das Metzler Literatur Lexikon sieht die Qualität des Unterhaltungsromans in „der schematischen Erfüllung von literarischen Mustern und der klischeehaften Darstellung von Wirklichkeit […], ohne jedoch wie die Trivialliteratur von diesen Merkmalen dominiert zu sein“. Unter diesen Prämissen hat Rolf Bauerdick, wie er im Autorengespräch auf WDR5 selbst deutlich macht, einen sicherlich unterhaltsamen Roman geschrieben, der verschiedene literarische Elemente wie die Identitätssuche eines Waisenkindes, die Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Geschichte, die kriminalistische Suche nach den Verbrechen der Staatssicherheit und des DDR Regimes, die Entdeckung exotischer Todesarten, aber auch die große Liebe sowie das Abenteuer und Freiheit versprechende Milieu des Zirkus miteinander verbindet. Hinzu kommt – aber nur am Rande – das Milieu der ‚Zigeuner‘, in dem die merkwürdig abweisend wirkende Mutter ihr spätes Glück und ihre Heimat gefunden zu haben scheint. Auch das ist ein Lieblingsthema Bauerdicks, der 2013 mit seinem Buch Zigeuner: Begegnungen mit einem ungeliebten Volk einen handfesten Skandal auslöste, indem er auch darin die Klischeewahrnehmung einer wohlsituierten gesellschaftlichen Mehrheit erfolgreich bediente.
In der Klischeefalle
Pakete an Frau Blech ist ein Unterhaltungsroman, der eben nichts anderes will als eine Geschichte erzählen, die zumindest in ihrem Plot das eine oder andere Thema aufgreift, das den Leser auf irgendeine Weise berühren kann. Ähnliches kann man auch abendlich auf den besten Sendeplätzen der deutschsprachigen Fernsehanstalten sehen, die dem mündigen Fernsehzuschauer eine heile Welt vorgaukeln, deren scheinbarer Realismus auf der Konstruktion einer unwahrscheinlichen, unrealistischen und vor allen Dingen in ihren historischen wie gesellschaftlichen Zusammenhängen ausgesprochen schiefen Darstellung beruhen. Wichtig ist dabei, wie auch in Bauerdicks Unterhaltungsroman, dass am Ende alles in moralischer als auch juristischer Hinsicht ‚in Ordnung‘ gebracht wird: Die Bösen werden bestraft oder kommen ums Leben, die Guten finden ihr Glück in einer finanziell wie emotional in jeder Hinsicht abgesicherten Welt. Es wird sicherlich nur kurze Zeit dauern, bis ein Programmplaner sich dieses Stoffes annimmt, um einen jener Abendfilme zu produzieren, die auch gesellschaftlich brisante Themen mit ihrer verklebten Ästhetik und schleimigen Moral intellektuell begradigen.
Die Brille des Katholizismus
Doch der Programmplaner wie auch der immer noch motivierte Leser seien gewarnt: Dieser Roman ist ein vergiftetes Geschenk, ebenso wie die Lektüre eine vergiftete Lektüre ist. Denn letztlich geht es Rolf Bauerdick überhaupt nicht um die historisch wie politisch angemessene Darstellung der deutsch-deutschen Differenzen, auch nicht um die Identitätssuche eines Mitglieds der sogenannten dritten Generation, sondern vor allem um die plakativ inszenierte Durchsetzung (s)einer durch und durch katholizistischen Weltsicht. Die Welt des Maik Kleine ist eine Welt, in der die Erklärungsmuster eines Katholiken noch funktionieren, und in der alles auf dieses engstirnige Weltbild reduziert werden kann. Nicht die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus, nicht die Besonderheiten einer DDR-Kultur in den 1970er Jahren, nicht die Brüche, die ein aus der DDR übersiedelter Jugendlicher in der westdeutschen Jugendkultur der 1980er Jahre oder auch in einem katholischen Schulinternat erlebt, sind das Thema dieses Romans. Solche Elemente werden hier in jeder Hinsicht ausgeblendet. An ihre Stelle treten Erklärungsmuster, die immer aus einer katholischen Grundhaltung zu resultieren scheinen und versetzt sind mit einigen ostalgischen Kuriosa. Der eigentliche Held des Buches ist, das macht das Ende deutlich, der jesuitische Lehrer, der den Lebensweg des Maik Kleine im Sinne des göttlichen Planes väterlich behütet. Das gesamte gesellschaftliche Umfeld – sei es in der DDR, sei es in der BRD – definiert sich aus einem doch eher fundamental zu nennenden Verständnis der katholischen Religion.
Nicht Dante, sondern Karl May
Alles läuft darauf hinaus, dass Maik die richtigen ‚Gebete‘ spricht und seinen Weg zum wahren Glauben findet. Den falschen Weg hat die Tante eingeschlagen, für den Fehler, die Sünde, die sie begangen hat, muss sie nun ewig büßen; bei Dante lernen wir, dass Mörder wie Selbstmörder in den siebten Kreis der Hölle kommen. Maik Kleine hingegen, dieser Bewohner einer säkularen Hölle, findet am Ende in der Zirkusartistin Albina vielleicht die irdische Jungfrau und damit seine persönliche Erlösung: „Selbstsicherheit mit dem Hauch kühler Unnahbarkeit ebenso wie Sehnsucht nach glühender Hingabe. Feminine Raffinesse und das kokette Spiel mit der Scheu genauso wie eine enthemmte Lust am Leben. Und vielleicht auch an der Liebe, mit einer Spur melancholischer Verlorenheit. Die Jungfrau von einst schwebte nicht mehr. Albina war auf der Erde gelandet. Aus der Zirkusprinzessin war eine Königin geworden, sinnlich und schön.“ Doch leider ist dieses Buch keine Reminiszenz an Dante im Dante-Jahr 2015, sondern der recht durchschaubare Versuch eines Unterhaltungsromans auf den Spuren von Karl May im 21. Jahrhundert. Und es bleibt der Eindruck, dass die DDR-Geschichte hier in ähnlicher Weise reduziert wird, wie die Karl May-Romane für die sommerlichen Karl-May-Festspiele im sauerländischen Elspe: Stasi in Elspe zur Unterhaltung eines breiten Publikums. Denn in seiner Grundkonstruktion wirkt die ganze Geschichte enorm klischeehaft, die spielerischen Ausflüge in Details der deutschen Geschichte bleiben letztlich marginal und werten zufällige Funde der DDR-Kultur und nebensächliche Details aus der Nachgeschichte der DDR in unangemessener Weise auf.
Um es kurz zu sagen: Rolf Bauerdick verhebt sich bei seinem Versuch, die Schwierigkeiten des deutsch-deutschen Miteinanders zu beschreiben, erheblich. Dieser Roman ist der redundante Prototyp einer durchweg misslungenen Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Geschichte aus einer nachgelagerten Perspektive. Denis Scheck, so bleibt zu hoffen, würde diesen Roman in eine seiner bekannten Papiertonnen werfen, falls er es jemals in den ausgewählten Kreis Schecks Kandidaten schafft.
Geiler Verriss!
Megageiler Verriss!! Nur redet Gossen von einem anderen Buch, als ich gelesen habe. Wenn ein Kritiker einem Autor abschließend wünscht, von Denis Scheck in die Mülltonne gekloppt zu werden, wirkt das eher gehässig. Ausgesprochen unsouverän. Kritisch aus der Perspektive des Lebens in der DDR, aber viel fairer ist die Besprechung “Spannende Scheinwelt-Vergangenheit” der Pakete an Frau Blech auf http://sichtplatz.de/?page_id=3155.