Geisteswissenschaftler – „Und was wird man damit später?“ Der italienische Literaturprofessor Nuccio Ordine hat die Nase voll vom Ungeist seiner Zeit mit ihrem allgegenwärtigen Diktat der Zweckrationalität und versucht in einem Manifest, sich und seinesgleichen Von der Nützlichkeit des Unnützen zu überzeugen. Wer vorher schon zu zweckfreiem Verhalten neigte, ist überzeugt. Vielleicht aber auch verärgert.
von FABIAN MIRKO MAY
Dieser „Essay“ hat lange bei mir herumgelegen, seit er im Dezember 2014 erschienen ist. Warum? Weil ich nach dem Lesen lange nicht so recht wusste, was er eigentlich sein will und ob es ihm gelingt: Seelentröster für Geisteswissenschaftler, die sich auf verlorenem Posten und unter Rechtfertigungsdruck wähnen? Ernst gemeinte Auflehnung gegen das in alle Lebensbereiche diffundierte Diktat der Zweckrationalität?
Die Handlung: Nuccio Ordine, Professor für Italienische Literatur an der Universität von Kalabrien, lässt in den kurzen Kapiteln seines Manifestes die intellektuelle Prominenz der vergangenen 2400 Jahre auftreten und jeden auf seine Weise „[d]ie unverhoffte Nützlichkeit unnützer Wissenschaften“ beschwören.
Der antike Mathematiker Euklid etwa habe einem Schüler eine Münze geben lassen und gespottet, „denn der Mann muss etwas davon haben, dass er was lernt“. Den französischen Schriftsteller Théophile Gautier zitiert Ordine stolz und trotzig: Ja, „ein Roman ist kein nahtloses Paar Stiefel, ein Sonett keine Spritze mit Dauerstrahl und ein Drama keine Eisenbahn“. Und den Dramatiker Eugène Ionesco lässt Ordine im Februar 1961 ernst und programmatisch warnen, wer die Nützlichkeit des Nutzlosen und die Nutzlosigkeit des Nützlichen nicht begreife, begreife die Kunst nicht; und ein Land, in dem man die Kunst nicht begreift, sei ein Land von Sklaven und Robotern, in dem die Menschen leicht „zu den Tönen von ich weiß nicht welchen Trompeten, beim Ruf irgendeines Verrückten oder Dämons von einem fieberhaften Fanatismus, von irgendeiner Kollektivwut oder Volkshysterie“ befallen werden — wie es etwa in seinem Stück Die Nashörner passiert.
„Ich wollte den Begriff der Nützlichkeit einmal in einem anderen, viel universelleren Sinn verstehen“ (N. Ordine)
„Liebe um des Besitzens willen tötet die Liebe“ oder „Die Universität als Unternehmen und die Studenten als Kunden“ – was Ordine sagen will, wird schon beim Blick auf die Kapitelüberschriften klar. Und falls noch Restzweifel bestehen, expliziert er es auch: „Im Gegenteil zu dem, was uns die herrschenden Gesetze des Marktes und des Handels weismachen wollen, beruht das Wesen der Bildung ausschließlich auf Zwanglosigkeit: Wie unlängst Marc Fumaroli […] verdeutlicht hat, erinnert uns die große Tradition der europäischen Akademien und altehrwürdigen Einrichtungen wie des Collège de France (gegründet 1530 von Franz I.) daran, dass das Studium vor allem Erwerb von Kenntnissen ist, die uns, frei von jeglicher Zweckbindung, wachsen lassen und uns unabhängiger machen. Gerade die Erfahrung des vermeintlich Unnützen und die Erwerbung eines nicht unmittelbar quantifizierbaren Gutes erweisen sich als Investitionen, deren Profit sich erst auf lange Sicht […] zeigen wird.“
„Und wirklich haben die Dichter oft mehr in ihren Fabeln gefunden als viele Reiche in ihren Schätzen“ (G. Boccaccio)
Ordines Forderung, Kunst, Geist und Witz gegen die vermeintlichen Sachzwänge der Ökonomie hochzuhalten, ist ehrbar und (wie seine Zitatsammlung demonstriert) offenbar schon immer nötig gewesen. Doch Zähne zeigt diese Demonstration nicht. In Ton und Tempo verrät sie: Ordine spricht schon zu den Bekehrten (eigentlich lässt er mehr sprechen). Wer jene nicht kennt, die da um die Berechtigung vermeintlich zweckfreier Tätigkeit werben, wird sich von ihnen kaum umstimmen lassen.
Und warum überhaupt um Berechtigung für seine Geisteshaltung werben? Muss man das? Durch den defensiven Tonfall wird der Essay für stolze Geistesmenschen zum Stein des Anstoßes. Selbstvergewisserung für frustrierte Intellektuelle. Und sollen Intellektuelle statt über ihre eigene Rolle nicht lieber über etwas Interessantes schreiben?
Trotzdem hört Ordine nicht auf. Statt es gut sein zu lassen, hängt er noch völlig unnütz einen Aufsatz des US-amerikanischen Pädagogen Abraham Flexner an, der im Oktober 1939 ins gleiche Horn wie Ordine gestoßen hat.
Nach dem Quellenverzeichnis zu urteilen, mit dem das Buch dann tatsächlich endet, hat sich übrigens noch nie eine Frau kritisch über das Diktat der Zweckrationalität geäußert.
Und – da wir gerade bei den vielen unstimmigen Details sind – was denkt sich der deutsche Verlag dabei, kritische Leser dieses überflüssigen Werks auch noch mit einem uneinlösbaren Untertitel wie Warum Philosophie und Literatur lebensnotwendig sind zu provozieren?
„Aber trotzdem streckt Montaigne die Waffen nicht“ (N. Ordine)
In Summe ist dieses Buch zwar gut gemeint, aber hauptsächlich ein Ärgernis, dessen Besprechung ich vermutlich aus Gründen der Psychohygiene und Nervenschonung so oft verschoben habe. Der Verlag scheint es ja irgendwie geahnt zu haben: Statt mit dem italienischen „manifesto“ unterschrieb er den Titel Von der Nützlichkeit des Unnützen lieber gleich mit dem deutlich schwächer klingenden „Essay“.
Da hat der Ordinde mit diesem Buch den Geisteswissenschaften keinen Gefallen getan, wie es scheint. Trotzdem danke für die “Warnung”. 😉 Weißt du zufällig, wie alt der Knabe ist?
Als Geisteswissenschaftler antworte ich auf die unvermeidliche Frage “Und was machst du damit mal später?” in den meisten Fällen nur noch mit einem tynischen “Taxifahren”. Gerade die defensive Grundhaltung, die Ordine einnimmt transportiert doch auch eine Unsicherheit, die auch innerhalb der Geisteswissenschaften umhergeistert. Ein wenig mehr Selbstvertrauen statt Rechtfertigungsfloskeln, das täte gut!