Nach Monstern nun Morbus: Neues aus Nora Gomringers Alphabet der Schwellenzustände

Nora Gomringer - Morbus Cover: Voland & QuistAlle Lyrikleser wissen schon Bescheid: Nora Gomringer hat in diesem Jahr den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gewonnen und ist auch schon vorher sehr für ihren neuen Gedichtband Morbus gelobt worden. Deshalb hier noch einmal für alle, die normalerweise keine Lyrik lesen: Dieses Buch ist eine wunderbare Einstiegsdroge.

von STEPHANIE HEIMGARTNER

Bei so vielen Krankheiten braucht man auch Arznei: Nach ihrem letzten Gedichtband, einer eklektischen Enzyklopädie von Monstergestalten, ist es diesmal ein Alphabet des Morbiden, das Nora Gomringer uns präsentiert. Die Beschäftigung mit dem Liminalen, Abseitigen liegt für die Dichterin offenbar nahe, auch wenn sie selbst sich in der Mitte des Kulturbetriebs tummelt – sie leitet ein Künstlerhaus, dreht Videoclips, bloggt, schreibt Essays fürs Radio und titelt auf ihrer Homepage flapsig: „NORA GOMRINGER MACHT DAS GESICHT. AUS.“

Auch dieser Band kommt nicht einfach solide gebunden auf hübschem Werkdruckpapier daher, in klassischer Typo, 98 Seiten für 19,80 Euro, mit halbvollen Seiten und einem Autor, der uns mit schwarzumrandeter Brille vom Klappentext aus so anschielt, als wollte er mahnen: „Lange kein Gedicht mehr gelesen, was, du Banause? Mit meinem Werk kommt die deutsche Hochkultur zu dir.“

Gomringers Band ist broschiert, hat poppiges Vorsatzpapier, auf dem rote Blutkörperchen herumschwimmen, die Gedichte stehen in klinisch-nüchterner, serifenloser Schrift je einer ganzseitigen Illustration von Reimar Limmer gegenüber. Bereits bei den Monstern haben die Lyrikerin und der Grafiker zusammen ein beeindruckendes Ensemble geschaffen; in dem neuen Band wechseln verschiedene lyrische Stile und grafische Techniken einander ab. Punkt eins also für Nicht-Lyrik-Leser: Es wird nicht langweilig.

Punkt zwei: Zum „Gesamtkunstwerk“ trägt auch noch eine beigelegte Audio-CD bei, auf der die Autorin ihre Gedichte vorträgt. Wer will, braucht also gar nicht selbst zu lesen, sondern kann Bilder gucken und Nora Gomringers angenehmer Stimme zuhören, wie sie uns mit Texten über gruselige Krankheiten einlullt.

Punkt drei: Das ist nicht alles, was man tun kann, man kann auch mitmachen. Ähnlich wie manche Kinderbücher ist der Band interaktiv, es gibt Rätsel, Suchbilder, Infografiken, die man betrachten oder lösen oder an denen man etwas lernen kann.

Punkt vier, bei Lyrik nicht immer der Fall: Man versteht, worum es geht. Nicht nur sind die Gedichte selbst klar und nicht überkomplex, auch wird im Inhaltsverzeichnis vorsichtshalber angegeben, um welche Krankheit es jeweils geht, sollte jemand aus Versehen beim Lesen die falsche Diagnose gestellt haben.

Wer so viel Spaß überhaupt vertragen kann, hätte ihn garantiert nicht von einem Gedichtband erwartet. Das ist sozusagen Lyrik 2.0. Auch der Link zur Autoren-Homepage fehlt natürlich nicht.

Anschauliche Krankheitsbilder

Abgesehen vom trendigen Styling zeigt Nora Gomringer ihre stilistische Wendigkeit auch dadurch, dass sie zum Gedicht den passenden Ton wählt. In Plumbum versammelt sie in kargen, kurzen Versen Metaphern zur Depression. Den Krebs ahmen Zeilen nach, deren Enden geformt sind wie die Sequenzen mutierender Gene. Beeindruckend zart gelingt das Epitaph auf Anne und Margot, Die Mädchen von Bergen-Belsen; wirr und abgehackt kommt die Tollwut daher, eher komisch wird es beim Herpeswaltz.

Reimar Limmer findet eine ähnlich suggestive Bildsprache: Zum Syphilis-Gedicht sehen wir eine kopfstehende Frau, aus deren Rock einige berühmte Opfer der Krankheit herausragen (eines der Rätsel im Buch: Wer ist’s?), der Lepra-Tarzan steht auf verkrüppelten Beinen am Strand von Hawaii, die Fotos der Alzheimer-Patientin sind nur noch verschwommen wahrzunehmen.

Die bedichteten Krankheiten wählen aus dem gesamten Spektrum dessen aus, was Körper und Geist an Pathologien vorzeigen können, und stellen deshalb auch die Normalität, das Gesundsein infrage. Die begleitenden Grafiken, die oft mit Collagen, ausgeschnittenen Elementen älterer Illustrationen arbeiten, menschliche Gestalten in unpassende Umgebungen versetzen, mit Größenverhältnissen spielen oder ganz verschiedene Techniken kombinieren (Foto, Comic, Rasterung, Aquarell, Computergrafik), erzeugen einen verwirrenden und leicht absurd anmutenden Taumel. Man hat das Gefühl, wie ein Fieberkranker unter leicht verzerrter Wahrnehmung oder Halluzinationen zu leiden.

Protestantischer Zierrat

Auf nicht gerade subtil zu nennende Weise werden die Symptombeschreibungen der Gedichte mit einem christlich-religiösen Rahmen versehen: In den Motti Hiob am Anfang, Matthias Claudius am Ende, die zweifelnden Apostel Judas und Thomas haben ihren Auftritt (in Showtreppenebola), beim Zahnarzt wird stoßgebetet, die „unreinen“ Leprakranken der Bibel werden zitiert. Krankheit und Frömmigkeit, so lässt sich mutmaßen, gehören irgendwie zusammen. Sei es, dass die eine zur anderen führt oder umgekehrt; offenbar stellen sich religiöse Fragen eher, wenn der Mensch gesundheitlich angeschlagen ist, und Gomringer schöpft aus vertrautem Erbe, dessen Strenge in der schrillen Umgebung befremdet. Auch hier zweifelt man an der eigenen Wahrnehmung: Kann das etwa ernst gemeint sein? Oder wird der protestantische Zierrat hier sarkastisch als Wortklingelei angesichts des menschlichen Elends entlarvt?

Die Vielzahl der Krankheiten in Morbus bringt einen schnell drauf: Vielleicht entkommt man einigen von ihnen, aber unmöglich allen. Früher oder später ist man dran und wird krank. Vielleicht sogar dauerhaft. Da kann man sich getrost auch schon vorher als geringfügig schadhaftes, weil dem Verfall ausgesetztes Wesen denken. Immerhin hat, wer körperlich krank ist, die Lizenz, sich aufs Sofa zu legen und, sofern die Krankheit nicht schwer ist, etwas zu lesen. Vielleicht etwas thematisch Passendes.

PS: Winziger Kritikpunkt: Seit Word die Apostrophe falsch herum setzt, weiß kein Buchgestalter mehr, wie sie richtig herum aussehen. Das wäre einem gelernten Schriftsetzer nicht passiert. Fällt kaum ins Gewicht, da nur die Motti auf S. 7 und 59 eine Schrift verwenden, bei der die Satzzeichen so etwas wie Serifen haben. Aber das Auge stößt sich doch dran.

Nora Gomringer: Morbus. Mit Illustrationen von Reimar Limmer
Voland & Quist, 64 Seiten
Preis: 17,90€
ISBN: 978-3-86391-097-6

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