Der Cockring der Geschichte

Eiríkur Örn Norðdahl - Böse Cover: Tropen bei Klett-CottaDer Holocaust ist immer wieder Thema literarischer Bearbeitungen. Dass er auch die Enkelgeneration nicht kalt lässt und wie ein Sextoy und Island hiermit zusammenhängen, zeigt Böse von Eiríkur Örn Norðdahl.

von GREGOR J. REHMER

Frierend steht Agnes in einer kalten Januarnacht an einem Taxistand im isländischen Reykjavík in der Warteschlange. Um sich aufzuwärmen, schiebt sie ihre Hände einfach unter die Jacke des Mannes, der hinter ihr steht, und drückt sich an ihn. So kommt es, dass sie schließlich die restliche Nacht miteinander verbringen. Es ist nicht das letzte Mal, dass die beiden das Bett teilen: Denn Ómar, so der Name des Mannes, dem kalte Hände nichts auszumachen scheinen, und Agnes verlieben sich ineinander. Die Beziehung verliert ihre anfängliche Leichtigkeit, als Agnes eine Affäre mit Arnór beginnt. Unerwartet schwanger, wird sie von der Unsicherheit geplagt, wer wohl Vater des Kindes ist. Und dann erfährt Ómar auch noch von ihrem Verhältnis …

LeserInnen, die keine Lust auf Liebesschmonzetten haben und sich auch nicht fragen, ob Ómar und Agnes sich trennen oder für wen Agnes sich nun entscheiden wird, mögen geneigt sein, Eiríkur Örn Norðdahls Böse nach dieser Zusammenfassung gar nicht mehr in die Hand zu nehmen. Ein Fehler! Denn was sich auf der Plotebene wie eine klassische – und womöglich langweilige – Liebes- bzw. Dreiecksgeschichte lesen mag, entpuppt sich schon ab der ersten Seite als intelligenter und lesenswerter Kommentar zum Holocaust, seinen (medialen) Repräsentationen, seinen Nachwirkungen auf die Enkelgeneration und die isländische und gesamteuropäische Gesellschaft. Eine Liebesgeschichte ist das wahrlich nicht.

Geschichte einer Besessenheit

Agnes ist Tochter litauischer Einwanderer und ihre Urgroßeltern – auf der einen Seite Katholiken, auf der anderen Seite Juden – sind während des Zweiten Weltkriegs Opfer der Nazis bzw. der Shoah geworden. Manche ihrer Verwandten haben sich dabei schuldig am Massenmord an den Juden des litauischen Dorfes Jurbarkas gemacht. Von diesem Erbe – Nachfahrin von Opfern und Tätern zugleich zu sein – belastet, entwickelt Agnes eine regelrechte Holocaust-Besessenheit und widmet sich auch in ihrer nie enden wollenden Master-Arbeit den Themen Holocaust, Antisemitismus, Rassismus und Rechtspopulismus.

Bei den Recherchen zu dieser Arbeit lernt Agnes den Neonazi Arnór kennen. Dieser – so wird schnell klar – gehört nicht zu der debilen Sorte Nazis, die Parolen schreien und Ausländer verhauen, vielmehr promoviert er gerade und argumentiert mit kulturphilosophischen Überlegungen für seine Ideologie.

Ómar, nach seinem Studium lange arbeitslos, ist ein Einzelgänger. Als Scheidungskind ohne rechte Bindung zu seinen Eltern und wegen ständiger Umzüge ohne Freunde aufgewachsen, scheint er ein antriebsloser Verlierer zu sein. Erst Agnes und die Geburt des (gemeinsamen?) Sohnes Snorri können ihn für kurze Zeit aus seiner Lethargie holen. Doch nach dem Fund von Arnórs Cockring in Agnes’ und seinem Bett verliert er den Kopf, wird zum Brandstifter und begibt sich auf eine Tour durch Europa, auf der er – längst von Agnes’ Holocaust-Obsession in Beschlag genommen – eine Vielzahl von Erinnerungsorten besichtigt, die mit der Vernichtung des europäischen Judentums in Verbindung stehen.

Narration und Geschichte

In ständigen sich rasant abwechselnden Rück- und Vorblenden, mal aus der Perspektive des einen, mal aus der des anderen Charakters, erfahren die Leser von Agnes’, Ómars und Arnórs Kindheit, Jugendzeit und ihrer gemeinsamen Geschichte. Eine weitere Ebene der Narration widmet sich dem Mord an den Juden aus Jurbarkas und damit auch dem Schicksal von Agnes’ Urgroßeltern. Ein drittes, quantitativ und qualitativ ebenfalls wichtiges Element des Romans bilden die Äußerungen des Erzählers: Die in kleinen Häppchen servierte fiktive Geschichte um Agnes, Ómar und Arnór sowie die fiktionalisierte Geschichte des Dorfes Jurbarkas werden durch dessen Einschübe kontextualisiert, erleuchtet, kommentiert; was nicht immer offensichtlich ist, da der direkte Zusammenhang zum Romangeschehen meist fehlt. In diesen vielen kurzen Passagen werden eine Menge Themen und Personen abgearbeitet: Holocaust, Hitler, Naziideologie, Rassismus, Finanzkrise, Rechtspopulismus in Island, Litauen und Europa …

Böse zeigt auf, dass der Holocaust auch in der Enkelgeneration der Zeitzeugen noch seine Spuren hinterlässt – und dies nicht nur im Land der Täter oder den Ländern Europas, in denen jüdisches Leben vernichtet wurde, sondern auch in Ländern, die man traditionell nicht mit dem Holocaust in Verbindung bringt. Gleichzeitig verweist der Roman darauf, dass die Zuschreibung von „gut“ und „böse“ nicht immer so einfach ist. Zwar wird kein Zweifel daran gelassen, dass der Holocaust von Deutschland ausging und sich auch die vielen willigen Mitläufer in den besetzten Gebieten schuldig gemacht haben. Doch darüber hinaus kann sich jeder, so auch Agnes, Ómar und Arnór, schuldig machen, zum Täter und somit „böse“ werden.

Möchte man das Buch kritisieren, dann sicherlich für seine Verwobenheit, seine Komplexität. Die Vielzahl der Stimmen und Perspektiven – sogar das Baby Snorri bekommt eine Stimme –, die stellenweise undurchsichtige Chronologie, die ständigen Einschübe des Erzählers, die Kürze der einzelnen Passagen, in denen der Roman inhaltlich weiterentwickelt wird: Diese Aspekte tragen sicherlich nicht dazu bei, dass sich alle LeserInnen in dem Roman gut zurechtfinden werden, sich vielleicht sogar verlieren. Doch wer sich erst einmal an diese Sprunghaftigkeit gewöhnt hat, sollte schnell wieder Orientierung erlangen und die Verflechtungen als eine große Stärke von Böse anerkennen. Auch das Ende des Romans, die letzte ernüchternde Aussage, mag – vor dem Hintergrund des Holocausts – Unzufriedenheit auslösen, entspricht aber wohl der (traurigen) Realität.

Der Zeigefinger an der Schläfe

Während Eiríkur Örn Norðdahl, Jahrgang 1978, in Island schon durch mehrere Gedichtbände, Übersetzungen, Romane und Auszeichnungen auf sich aufmerksam gemacht hat, ist er hierzulande noch eher unbekannt. Erst ein Roman und ein Lyrikband wurden vor Böse ins Deutsche übersetzt. Der Tropen Verlag von Klett-Cotta hat mit Norðdahls preisgekröntem Roman nun ein weiteres isländisches Werk in sein Programm aufgenommen und es der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht. Dabei fiel die Wahl sicherlich nicht allein wegen der Holocaust-Thematik auf Böse, sondern auch wegen Norðdahls gelungener Mischung aus fiktiver Gegenwart, fiktionalisierter Geschichte sowie den spitzen Kommentaren zur realen Gegenwart und verbürgten Geschichte. Trotz des ernsten Themas ist sein Stil von einer Lockerheit, von subtilem Humor und Sarkasmus geprägt. So wird einem beim Lesen der erhobene Zeigefinger auch nicht gleich mitten ins Auge gestochen, sondern vielmehr sanft an der Schläfe gerieben, um das eigene Nachdenken zu fördern.

Vielleicht kann man Böse von Eiríkur Örn Norðdahl nicht auf den gleichen Rang mit Jonathan Safran Foers Alles ist erleuchtet stellen. Dennoch sollte, wer sich mit der literarischen Repräsentation des Holocausts – vor allem auch in den Generationen der Nachgeborenen – beschäftigt, Böse auf jeden Fall lesen. Und wer die Thematik lieber meiden oder der isländischen Literatur aus dem Weg gehen möchte, der sollte es sich anders überlegen und dennoch zu Böse von Norðdahl greifen.

Eiríkur Örn Norðdahl: Böse.
Aus dem Isländischen von Betty Wahl und Tina Flecken
Tropen bei Klett-Cotta, 658 Seiten
Preis: 24,95 Euro
ISBN: 978-3-608-50143-8

 

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