Verteidigung des Schönen

Byung-Chul Han - Die Errettung des Schönen Cover: S. Fischer

Byung-Chul Han – Die Errettung des Schönen Cover: S. Fischer

Seit seinem Buch Müdigkeitsgesellschaft (2010) tritt Byung-Chul Han in seinen Essays als kritischer Zeitdiagnostiker hervor und gilt mittlerweile als ein zwar nicht allgegenwärtiger, doch entschiedener Widersacher des Neoliberalismus. In seinem neuesten, bei S. Fischer erschienenen Werk Die Errettung des Schönen thematisiert der deutsch-koreanische Philosoph nun die Ästhetik und malt in einer prägnanten, punktuellen Sprache ein düsteres Bild des Schönen in der Gegenwart.

von JONAS PODLECKI

Dass sich die heutige Gesellschaft in einer heiklen Phase der Digitalisierung befindet, wissen wir spätestens seit der Diskussion um Big Data. Jeder Schritt im Internet kann aufgezeichnet, bearbeitet und verwertet werden für ökonomische, politische und auch repressive Zwecke. Wer im Netz negativ auffällt durch kritische Kommentare an der amerikanischen Politik, dem kann die Einreise in die USA verweigert werden. Das Internet der Dinge soll den Privathaushalt einer Person steuern. Diese muss sich dann um nichts mehr kümmern. Der Kühlschrank besorgt die Einkäufe, das Auto findet den Parkplatz und das Smartphone verschickt automatisch Geburtstagswünsche. Wenn schließlich alles in der Cloud gespeichert wird, wie im Roman The Circle von Dave Eggers dargestellt, dann kann prinzipiell jeder Mensch auf alle Daten, die jemand hochgeladen hat, zugreifen und damit machen, was er will. Der Mensch reduziert sich auf ein digitales Selbst, das zu seiner einzigen, alle Lebensbereiche umfassenden Identität wird. Der Dataismus höhlt das Subjekt aus in eine Online-Existenz, die keine charakterliche Tiefe, sondern nur mehr eine konsumierbare Oberfläche besitzt. Das Schöne wird aller Negativität beraubt und beschnitten auf eine flüchtige, wohlgefällige Sexyness, die einen nicht mehr enthebt ins Erhabene, deren Reiz stattdessen einzig auf einen augenblicklichen Affekt zielt: Like – und auf Wiedersehen.

Konsum(an)ästhetik

In einem Essay über Ossip Mandelstam schreibt Jospeh Brodsky: „Die Kunst ist nicht eine bessere, sondern eine andere Art der Existenz; sie ist nicht der Versuch, der Realität zu entfliehen, sondern das Gegenteil: ein Versuch, sie zu beseelen. Sie ist der Geist, der einen Leib sucht und Worte findet.“ In der digitalisierten, konsumgetrimmten Welt dagegen, konstatiert Byung-Chul Han, sind die Kunstwerke entseelt und, wie die Skulpturen von Jeff Koons, auf unmittelbare Wirkung hin gestaltet. Das künstlerische Erzeugnis bewirkt kein kontemplatives Verweilen am Gegenstand mehr, sondern nur noch ein Vorüberstreichen der Aufmerksamkeit. Wow. Like. Und weiter. Die Kunst wird alles Schmerzlichen, Schrecklichen und Schlimmen entkleidet, um sie auf ein erträgliches, das heißt rein positives Maß an Wohlgefallen zu glätten. Der Betrachter wird nicht mehr entgrenzt in das Andere und Fremde des Kunstwerks. Im Gegenteil: Die Wahrnehmung sedierend, entlockt das Schöne dem Rezipienten heute ein fades Gefällt-mir in der „Immanenz des Konsums“. „Die Positivität des Glatten beschleunigt die Kreisläufe von Information, Kommunikation und Kapital“, schreibt BCH. Indem man das Schöne also an-ästhetisiert, macht man es (ökonomisch und hedonistisch) verwertbar. Dies führt die Kunst und das Schöne zu einer An-Ästhetik (= Nicht-Ästhetik), der BCH verständlicherweise nichts Positives abgewinnen kann, da sie die Kunst verkrüppelt auf ein rein affektives Konsumgut. „Im heutigen ästhetischen Regime wird dagegen sehr viel Reiz produziert. Gerade in dieser Flut von Reiz und Erregung verschwindet das Schöne. Sie lässt keine kontemplative Distanz zum Objekt zu und liefert es der Konsumtion aus.“

Byung-Chul Han arbeitet in seinem Essay durchweg kontrastiv. Er greift auf eine ganze Armada von Autoritäten zurück (wie beispielsweise Kant, Hegel, Schopenhauer, Bataille, Barthes, Gadamer, Adorno oder Eva Illouz) und stellt ihre Theorien dem „Digitalschönen“ gegenüber. Dank dieser Konfrontation leuchtet das „Digitalschöne“ in seiner Gehaltlosigkeit deutlich auf. Doch das Erfrischende an BCH ist sein apodiktischer, konziser Stil, der nichts Affektiertes oder Schöngeistiges an sich hat, sondern das Dargelegte noch luzider hervorscheinen lässt. In der heutigen akademischen Landschaft ist dieser philosophische Pointillismus einzigartig. Wenn BCH beispielsweise mit Verweis auf das Theater die Erotik von der Pornografie abgrenzt, dann klingt das so:
„Der Erotiker unterscheidet sich vom Pornographen durch seine Indirektheit und Umwegigkeit. Er liebt szenische Distanzen. Er begnügt sich mit Andeutungen, statt die Sache direkt zur Schau zu stellen. Der erotische Schauspieler ist kein pornographischer Schausteller. Die Erotik ist allusiv und nicht affektiv. Darin unterscheidet sie sich von der Pornographie. Geradeheraus ist der Zeitmodus des Pornographischen. Verzögerung, Verlangsamung und Ablenkung sind zeitliche Modalitäten des Erotischen. […] Die Pornographie meidet Umwege. Sie geht direkt zur Sache. Erotisch sind dagegen Zeichen, die zirkulieren, ohne sich zu offenbaren. Pornographisch wäre das Offenbarungstheater. Erotisch sind Geheimnisse, die prinzipiell unenthüllbar sind.“
Störend ist da lediglich der unnötig exzessive Gebrauch der Kursivschreibung.

Non ethica sine aesthetica

Das anästhetische Schöne entpuppt sich als ein autoerotisches Gefühl, in dem kein Raum ist für das Andere, das heißt für das Negative als „belebende Kraft des Lebens.“ Aber gerade aus der Ambivalenz von Anziehung und Abstoßung schöpft das Schöne seine Verführungskraft, die in einer Positivgesellschaft wie der unseren geopfert wird zur affirmativen Selbstdarstellung. Schön ist beispielsweise nicht mehr der Ort, an dem ich bin, sondern dass ICH dort bin. Schön ist nicht mehr ein Gemälde, das ich betrachte, sondern was ICH dazu zu sagen habe. Das Nicht-fassbare oder Sprachlos-machende formt aber mit die Tiefe des Schönen. Man vernichtet die tief eingegrabene Andersheit für die Selbstbespiegelung an der (spiegelglatten) Oberfläche.

Angesichts des Schönen sollte sich das Subjekt zugunsten des Anderen zurücknehmen. Indem es zurücktritt aus seiner zentralen Stellung und Raum lässt für das Kunstwerk, das seine Position einnimmt, versenkt sich das betrachtende Subjekt in das Kunstobjekt und wird von diesem erfüllt. Darin gründet die ethische Haltung der (eigentlichen) Ästhetik, wie sie bei Platon und Aristoteles zu finden ist. Dieses Ethos nimmt man als freier Mensch an. Auf die Politik bezogen, schreibt BCH: „Die Politiker als freie Menschen müssen schöne Taten hervorbringen jenseits des Lebensnotwendigen und Nützlichen. Politisches Handeln heißt etwas ganz Neues beginnen lassen.“ Was zunächst sehr naiv klingt, hat seinen Sinn in der Alternativlosigkeit einer von Zwängen und Notwendigkeiten geleiteten Politik: „Die Politik muß eine Alternative, eine wirkliche Wahl anbieten. Sonst verkommt sie zur Diktatur. Der Politiker als Handlanger des Systems ist kein freier Mann im aristotelischen Sinne, sondern ein Knecht.“ So zeigt BCH ganz beiläufig den Zusammenhang zwischen der Freiheit, dem Schönen und dem Guten. Später tritt noch die Wahrheit hinzu und bildet, zusammen mit den anderen Eigenschaften, ein ästhetisches Quartett.

Zurück zur rettenden Verbindlichkeit

Die heutige Erfahrung des Schönen ist also konsumistisch, pornografisch, narzisstisch und erlaubt keine „Andersheit des Anderen“. Die Alterität wird geopfert zugunsten der Befriedigung des Ego, was ein grundsätzliches Zusammenwirken von Ethik und Ästhetik nicht zulässt. Was also tun? Byung-Chul Han hat eine simple wie treffsichere Antwort parat: „Die Aufgabe der Kunst besteht demnach in der Errettung des Anderen. Errettung des Schönen ist Errettung des Anderen. […] Die poetische Sichtweise [des Schriftstellers] entdeckt die verborgenen Liaisons zwischen den Dingen.“ Gegen die zunehmende Flüchtigkeit und Beliebigkeit bietet BCH Beständigkeit und Dauer, gegen radikale Kontingenz Verbindlichkeit. Das attraktive Objekt des Gefallens soll zu einem Kunstwerk umgewandelt werden, in dem sich der Betrachter verliert. Wer das Verbindliche rettet, rettet das Schöne.

Seit einigen Jahren schon polarisiert Byung-Chul Han die Gemüter. Die einen loben seine angenehme Skrupellosigkeit, Originalität und Klarheit, die anderen erkennen in ihm einen „an Heidegger geschulten Modephilosophen“ und Scharlatan, der die Leser mit Pleonasmen, Plattitüden und Pauschalisierungen irreführt. BCH ist nicht eigentlich ein Philosoph, sondern in erster Linie ein zeitkritischer Essayist. Den Beruf des Universitätsprofessors übt er aus, um seiner Berufung als aufklärender Schriftsteller bestmöglich nachzugehen. Was ist der Sinn einer solchen Zeitdiagnostik? Sie soll dich schützen vor geistiger Verkrustung. Sie soll dich aus dem Alltag katapultieren in die Sphäre der Erkenntnis. Und sie soll dir ein Schild sein gegen ideologische Propaganda, die an jeder medialen Straßenkreuzung lauert, um dich zu verarschen. Mit Byung-Chul Han ist man gegen diese Art von Gehirnwäsche bestens gewappnet – für den Anfang.

Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen
S. Fischer, 112 Seiten
Preis: 19,99€
ISBN: 978-3-10-002431-2

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