In der Mischanlage der Kokerei Essen gibt es dieses Jahr bei der Ruhrtriennale Orfeo zu hören. Nein, eher gibt es Eurydike zu sehen, die in der Regie von Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot in vielfacher Ausführung in einer Vorhölle aus Plastik und hyperrealem 70er-Jahre-Design gefangen ist. Viel passiert hier nicht – dennoch: Das Konzept der Langeweile entpuppt sich zwar als zäh, aber durchaus auch als fesselnd.
von ANNIKA MEYER
Leider ist die Seilbahn kaputt, die die Gruppen von acht Leuten alle zehn Minuten in die Mischanlage der Kokerei fahren soll. Und so geht es eben im Regen zu Fuß und anschließend mit dem Fahrstuhl ins höchste Geschoss des Turms, in dem wir Monteverdis Orfeo, die erste aller Opern, zu erleben erwarten. Oben angekommen, sind die barocken Klänge Monteverdis zu hören – etwas langsamer, etwas hallender als gewohnt. Durch Schienen sehen wir den Raum unter uns: Dort sitzt das Solistenensemble Kaleidoskop im Kreis, alle acht Musizierenden sind als Eurydike verkleidet, mit blonden Perücken und starren Masken. Wir steigen eine Etage tiefer und sind nun, nach einem kurzen Aufenthalt in einem Warteraum, in dem uns auf Englisch Anweisungen und Hilfestellungen gegeben werden („The duration of this state is uncertain.“/„Don’t look back.“/„Be not afraid.“), im Limbus. Wir finden jedoch keine Hölle in dantesker Ausmalung mit Feuer, Teufeln und körperlichen Schmerzen vor. Vielmehr sehen wir beim Durchschreiten des Kokerei-Labyrinths – zehn Minuten verweilen wir in jedem Raum, bevor ein grünes Licht an der Tür signalisiert, weiterzugehen – Wohnräume aus Kunststoff und individuellen, bunten, aber doch kalten Farbkonzepten; da kann auch keine Plastikorchidee und kein Ikea-Spiegel die Hyperrealität wohnlich machen (Bühne: Katrin Bombe). Eurydike bewohnt jeden Raum – mal jung, mal alt, mal schlank, mal rundlich, doch immer mit blonder Perücke, gekleidet in Weiß- und Pastelltönen (Kostüme: Lotte Goos) und mit einer leblosen Maske, aus der uns nur die Augen, fast wie in einem Blinzelwettbewerb, entgegenstarren. Erst zum Schluss, bevor es ins finale Sterbezimmer Eurydikes geht, wird man allein zu Orpheus (Hubert Wild) vorgelassen. Dieser steht in einem steril-weißen Treppenhaus, auch er trägt Maske und Perücke und singt wenige Sekunden nur für den Besucher seiner Hölle – auch wenn er einem dabei derart unangenehm nahekommt, dass man den Gesang kaum genießen oder verarbeiten kann.
Die Hölle mit Tibetanischem Totenbuch und Tschaikowsky
Orfeo trägt in Essen den Untertitel Eine Sterbeübung. Mit englischen Anweisungen aus dem Tibetanischen Totenbuch, die u. a. auf TV-Geräten zu lesen sind, sollen wir mehr über das Loslassen der Gestorbenen und die Stadien nach dem Tod erfahren. Monteverdis Werk und der Orpheus-Mythos dienen hier eher als Klangfolie und Alibi, von der Barockoper ist wenig, vom antiken Stoff so gut wie nichts mehr zu erkennen. Doch das Konzept geht auf: Löst man sich von dem Gedanken, hier lediglich eine der bekanntesten und tragischsten Liebesgeschichten zu verfolgen, entdeckt man im gestischen Mikrokosmos die äußere wie innere Gefangenschaft Eurydikes. Sie scheint stets rastlos, sitzt mal unschlüssig auf einem Sofa oder zwängt sich in zweifacher Ausführung Kirschen durch die Gummimaske, um die Kerne später hochzuwürgen. Gesprochen wird dabei nicht. Nur aus Lautsprechern und den anderen Räumen überlagern sich verschiedene Partien des Orfeos; einmal klingelt das Handy in der Küche, Tschaikowskys elektronische Schwanensee-Suite zerstört die geradezu drückende Leere im Raum. Nicht nur Eurydike ist hier in dieser scheinbaren Alltagshölle, einer Zwischenstufe nach dem Tod – hält sie Orpheusʼ egoistischer Wunsch, sie wieder lebendig an seiner Seite zu wissen? – gefangen. Auch wir sind nun Limbusreisende, die sich den Blicken Eurydikes ausgesetzt fühlen. Ähnlich wie in Situation Rooms von Rimini Protokoll, das bei der Ruhrtriennale 2013 aufgeführt wurde, ist man Beobachter und Beobachteter zugleich: Durch die Fenster einiger Zimmer sehen wir sowohl das im Mittelraum sitzende Solistenensemble Kaleidoskop, das mal spielt, uns aber auch mal träge am Boden liegend anguckt, als auch andere Höllenbesucher, die sich in anderen Räumen das Ausharren Eurydikes antun.
„Are you bored yet?“
Natürlich – diese Jenseitsreise ist anstrengend. Immer wieder wummert und dröhnt es, bevor man einen weiteren trostlosen Raum betreten darf, es ist zu warm und man leidet mit den Eurydikes in dieser Plastikhölle. Für entertainmentsüchtiges Publikum ist der Rundgang sicher nichts – die TV-Geräte zeigen höchstens den leeren Vorraum oder Eurydike auf dem Sterbebett, in der Perspektive des Cristo Morto von Andrea Montegna. Selbst vereinzelt an den Wänden angebrachte Post-its mit Krakelschrift verhöhnen den teils zermürbten Zuschauer: „At that time, sounds, lights and rays – all three are experienced. These awe, frighten and terrify and cause much fatigue.“ Und in anderer Farbe zwischen den Zeilen: „Are you bored yet?“ Ja, gelangweilt kann man teilweise sein. Der Gang durch die Mischanlage zwingt einen förmlich in eine Ruhe hinein, man wird auf sich selbst zurückgeworfen und ist empfänglich für die kleinen optischen und akustischen Details der Installation. Nach dem Anblick der manchmal zuckenden, aber uns wenigstens nicht mehr anstarrenden Eurydike auf dem Totenbett verlassen wir die Hölle und die Kokerei – das Leben ist ganz schön hart, der Tod aber auch.
Informationen zur Inszenierung
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