Proust bei der Ruhrtriennale! „Nichts hätte selbstloser und beseligender sein können als die Träume, die jedes angekündigte Stück meiner Einbildungskraft schenkte und die für mich ihre Würze durch die Bilder erhielten, die sich unweigerlich gleichzeitig mit den Worten einstellten […].“ (Proust)
Krzystof Warlikowski versucht sich mit Die Franzosen an einem Stück Weltliteratur. Doch was bleibt vom Jahrhundertroman?
von KATJA PAPIOREK
Marcel Prousts Mammutwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, das immerhin sieben Bände und nahezu 4000 Seiten umfasst, lässt sich unmöglich auf die Bühne bringen. Das wissen auch Krzysztof Warlikowski (Regie) und Piotr Gruszczynski (Dramaturgie). Die Franzosen, ihren Beitrag zur diesjährigen Ruhrtriennale in der Maschinenhalle Zeche Zweckel in Gladbeck, bezeichnen sie folglich auch nur als inspiriert von Prousts Roman, im Programmheft sprechen sie gar von einer „Reportage nach Proust“. Dabei spielt das Theater in und für Prousts Werk eine durchaus bedeutende Rolle. So inszeniert Proust beispielsweise zahlreiche Erzählsequenzen als dramatische Szenen, darunter etwa das Drama des Zubettgehens, die Voyerszenen in Montjouvain und in den Bordellen sowie Gesellschaftsszenen in den Salons der Verdurins oder der Guermantes.
Totale Reizüberflutung
Letztere liefern für Warlikowski den Einstieg in Prousts Welt. In einem gläsernen Salonwagen schiebt sich der Adel auf die ansonsten eher karg ausgestattete Bühne, zerreißt sich das Maul über alles und jeden, was seiner nicht würdig erscheint, und vergnügt sich mit Geisterbeschwörungen. Vor Kopf befindet sich eine überdimensionale Theke. Die darüber angebrachte Uhr zeigt Echtzeit – und wird dem Zuschauer in den folgenden viereinhalb Stunden mehrfach schmerzlich vor Augen führen, wie lange er noch durchhalten muss. Jedenfalls dann, wenn er das Risiko eingeht, die Augen kurz von den Übertiteln abzuwenden. Eben hier liegt das größte Problem dieser Aufführung: Das Ensemble des Nowy Teatr spricht polnisch, deutsche und englische Übersetzungen laufen oberhalb der Bühne mit. Doch die Monitore sind viel zu hoch angebracht, das Stück ist vor allem in der Anfangsphase deutlich zu textlastig, um sowohl der Leuchtschrift als auch dem Geschehen auf der Bühne zu folgen. Geradezu absurd muten zudem Parallelhandlungen auf der Bühne und zusätzliche Videoprojektionen an. Da fällt es schwer, etwas über die schauspielerische Leistung der Darsteller zu sagen.
Warlikowski bedient sich recht frei an allen sieben Bänden, hält sich dabei aber keinesfalls an die Chronologie Prousts. Dass während der Aufführung die Titel der einzelnen Bände eingeblendet werden, verwirrt eher, als dass es nutzt. Teilweise erfindet Warlikowski hinzu oder nimmt Verschiebungen vor. Die ausgewählten Szenen sind dabei eher thematisch verknüpft. So liegen Schwerpunkte auf der Antisemitismus-Debatte rund um die Dreyfus-Affäre, Homosexualität, Eifersucht und Begehren sowie Aufstieg und (Ver-)Fall der Gesellschaft. Dem Proustkenner mögen da so große Themen wie Zeit und Erinnerung oder die ästhetische Erziehung Marcels fehlen.
Proust und Europa
Was von Proust bleibt, wirkt fast schon kanonisch. Man langweilt sich in den Salons und lästert, was das Zeug hält, die Herzensdamen werden misstrauischen Verhören in Bezug auf ihre sexuellen Erfahrungen mit anderen Frauen unterzogen – das Gespräch von Swann (Mariusz Bonaszewski) und Odette (Maja Ostaszewska) wird dabei gar als SM-Spielchen inszeniert –, man spricht von Sodom und Gomorrha (und auf der Bühne finden wohl auch mindestens zwei Vergewaltigungen statt), das Cattleya-Spiel darf ebenso wenig fehlen wie die Episode mit den roten Schuhen. Deutlich eindrucksvoller in Szene gesetzt wurden Hummel und Orchidee. Der Hausdiener (Claude Bardouil) tanzt auf Spitzenschuhen um eine überdimensionale Orchidee und benetzt sie mit feinem Sprühregen, während im Hintergrund drei Videos parallel an die Wand geworfen werden: einander küssende Pärchen wechselnden Geschlechts, der Bestäubungsakt der Hummel und die Paarung von Seepferdchen. Positiv in Erinnerung bleiben außerdem die Inszenierung des bal-de-têtes – mit Charlus (Jaek Poniedzialek) als Lagerfeld-Double am Tropf – und Bartosz Gelner in der Rolle des Erzählers, der vor allem als Beobachter auftritt.
Fast könnte das mit dem Abend versöhnen — wäre da nicht der Brechstangen-Europabezug im letzten Teil der Inszenierung. Robert de Saint-Loup (Maciej Stuhr) kehrt geläutert aus dem Krieg zurück und brüllt Pessoas Ultimatum ins Publikum, gefolgt von einer (immerhin von Celan selbst gesprochenen) Aufnahme der Todesfuge und dem Namedropping literarischer Größen des 20. Jahrhunderts, deren Tod beklagt wird (neben Proust werden hier unter anderen Thomas Mann, Kafka, Musil, Pessoa und Canetti genannt). So recht will das nicht zu den vorangegangenen Teilen passen – und wirkt deshalb vor allem gewollt und konstruiert. Zweifellos hat Prousts Werk auch heute nicht an Aktualität verloren, die hier gewählte Umsetzung reicht aber sicher nicht an die literarische Vorlage heran.
Also: Lieber Proust lesen!
Informationen zur Veranstaltung