Die schwedische Autorin Lena Andersson greift in Widerrechtliche Inbesitznahme ein uraltes Motiv auf: die unerwiderte Liebe. Dabei ist keine vorhersehbare Liebesschnulze entstanden, sondern ein abgründiger Blick in das Seelenleben einer rationalen Frau, die durch die Liebe den Verstand verliert.
von LINA BRÜNIG
Eine einfache Geschichte: Ester Nilsson ist eine vernünftige Frau in einer harmonischen, langjährigen Beziehung. Sie ist 31, Philosophin und Essayistin und es gewohnt, sich die Welt mit Hilfe von Literatur und Kunst verständlich zu machen. Als sie den Auftrag erhält, einen Vortrag über den bekannten bildenden Künstler Hugo Rask zu halten, geht sie diese Aufgabe genauso strukturiert an wie jede andere berufliche Arbeit auch. Und verliert im Laufe einer Woche – nur über die intellektuelle Beschäftigung mit diesem Mann – ihr Herz:
„Mit jedem Tag, den sie schrieb, wuchs das Gefühl der Verwandtschaft mit ihrem Gegenstand. Das Gefühl wandelte sich von Respekt am Sonntag zu Wertschätzung am Dienstag, zum Donnerstag hin wurde es zu einer bohrenden Sehnsucht und am Freitag zu schwerem Begehren. Es war nicht er, als ihr Geschöpf, den sie liebte, und sie hatte ihn auch nicht erschaffen, er hatte schon vorher existiert. Aber die Wörter, die nur ihre waren, umschlossen und liebkosten nun sein Werk, das er war.“
Ester verlässt ihren Freund, verbringt eine Nacht mit Hugo – und hört nichts mehr von dem Mann. Der Roman erzählt nun in schmerzhafter Nüchternheit, wie Ester versucht, eine Beziehung zu Hugo aufzubauen. Andersson erzählt dabei strikt aus der Perspektive der unglücklich Liebenden, die Stück für Stück herausfindet, dass sie im Leben Hugos nur eine Fußnote ist. Und die trotzdem nicht davon lassen kann, ihn anzurufen, ihm zu schreiben oder sich in seiner Nachbarschaft aufzuhalten.
Altes Motiv, neuer Twist
Der emotional unerreichbare Mann ist ein altes und bewährtes Motiv. So bewährt, bekannt und unendlich oft durchgespielt, dass man zu wissen meint, was einen erwartet. Von Ophelia und Hamlet über Faust und Gretchen bis Carrie und Mister Big – Frauen, die vor Liebe zu Grunde gehen, sind in der Literatur, in Film und Fernsehen nicht wegzudenken. Dennoch vermag es Anderssons Roman, aus dieser Masse herauszustechen.
Esters Verhalten lässt – vielleicht nicht zufällig – an Platons Ausspruch „Liebe ist in dem, der liebt, nicht in dem, der geliebt wird“ denken. Es sind ihre Gefühle, die im Mittelpunkt stehen – über Hugo erfährt der Leser kaum etwas. Der Roman überzeugt, weil die Autorin ihre liebesblinde Protagonistin nie der Lächerlichkeit preisgibt: Ihr einziger Fehler ist, dass sie versucht, Hugos Desinteresse objektiv zu verstehen. Durch den sachlichen Erzählton erhält die Geschichte so eine Allgemeingültigkeit, die keinen Zweifel daran lässt, dass im Grunde jeder in eine solche Situation geraten könnte.
Sachliche Romanze
Widerrechtliche Inbesitznahme ist ein Buch, das man an einem Abend locker runterlesen kann – oder bei dem man sich in jeden Gedanken vertiefen und die glasklaren, in aphoristischer Strenge konzipierten Sätze voll auskosten kann. Ähnlich wie die Filme von Aki Kaurismäki ergreift einen diese Geschichte nicht trotz, sondern wegen ihrer Lakonie. In jedem Fall handelt es sich um einen Roman, in dem weitaus mehr steckt, als man im ersten Moment vermuten würde.
Lena Andersson: Widerrechtliche Inbesitznahme
Luchterhand, 219 Seiten
Preis: 18,99 Euro
ISBN: 978-3-630-87469-2