Im vielfältigen Programm der diesjährigen Ruhrtriennale darf auch ein Polit-Talk nicht fehlen. In Kooperation mit dem hiesigen Theaterfestival hat die ZEIT eine neue Auflage des ZEIT Forum Kultur ausgerichtet und über das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart debattieren lassen.
von CHRISTOFER SCHMIDT
Augen rollen aufgeregt von links nach rechts, der Oberkörper wippt hin und her. Auf der Zunge kribbelt es, einige Wörter purzeln bereits aus dem Mund der wartenden Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags. Endlich wird Claudia Roth das Wort erteilt: „Wo ist Europa, wo ist Europa?“, ruft sie dramatisch und wild gestikulierend in die Menge. Ihre Leidenschaft ist mitreißend, ihr immer wieder aufscheinender Glaube an Diplomatie und Raison angesichts der unzähligen politischen Problemlagen bewundernswert. Die studierte Theaterwissenschaftlerin wünscht sich ein solidarisches, gut zusammenarbeitendes Europa. Ein Europa, das die gemeinsame Stärke nutzt, um moralisch vertretbare Entscheidungen in Bezug auf den Terror des IS, die Unruhen im Nahen Osten und die Aufnahme von Flüchtlingen durchzusetzen.
Eine Utopie? Zumindest wenn man den Ausführungen Sylke Tempels folgt, die zwei Stühle weiter sitzt. Moralische Maßstäbe an die Außenpolitik anzusetzen, findet sie falsch. Die Dinge seien „zu komplex“, nicht schwarz, nicht weiß, sondern „grau“. Zur aktuellen Lage und zu möglichen Eingriffen in Syrien sagt die Buchautorin und Journalistin: „Wir haben die Wahl zwischen Hölle und noch mehr Hölle“. Da hilft auch die Rahmung des Talks, der Rekurs auf die Geschichte, nicht weiter. Ein historischer Grundsatz wie „Nie wieder Krieg“ hält keine Lösungen für die gegenwärtigen Konflikte bereit. Stattdessen wird aufgrund der deutschen Kriegsvergangenheit eine Politik des Nicht-Einschreitens legitimiert. ZEIT-Redakteur Jochen Bittner trifft einen wunden Punkt, indem er beipflichtend erklärt: „Deutschland hat zu viel gelernt, was es nicht tun sollte, anstatt was es in der Gegenwart und Zukunft tun soll“.
Gestern | Heute | Morgen
Doch auch im weiteren Verlauf dieser Gesprächsrunde wird vornehmlich Vergangenes rekapituliert. Aktuelle Ereignisse werden als viel zu undurchsichtig abgetan – Perspektiven und Visionen für die kommende Zeit gedeihen nicht. Das in großen Lettern auf dem Begleitheft zur Veranstaltung prangende MORGEN wird vom Gewicht des GESTERN erdrückt. „Wir haben Unterlassungssünden auf uns geladen“, äußert Bittner und liefert damit den vielleicht stärksten Satz des Vormittags, der noch einige Zeit nachhallt. Josef Joffe, Moderator und Herausgeber der ZEIT, stellt eine bewusst provozierende These in den Raum: Die deutsche Politik der Zurückhaltung sei „nicht nur ein Reflex auf unsere Vergangenheit“, sondern „auch sehr bequem“. Die Mitdiskutanten sind sich uneinig. So bekundet der Historiker Norbert Frei im Zusammenhang mit dem zögerlichen Agieren unserer Außenpolitik: „Ich bin ganz zufrieden“, wohingegen Roth mehr Initiative fordert. Auch wenn die Ansichten der einzelnen Redner diesbezüglich divergieren, zumindest in einem Punkt stimmen alle Beteiligten, zu denen auch Romanautor Sherko Fatah gehört, überein: Das derzeit in Deutschland zu beobachtende Bürgerengagement in Bezug auf die Flüchtlingshilfe ist vorbildlich und verdient höchste Anerkennung.
Was das Publikum am Sonntagvormittag, den 06. September, in der Bochumer Jahrhunderthalle erlebt, ist eine Talkshow, wie sie auch im Fernsehen hätte stattfinden können. Jeder Gast tut seine Meinung kund und zeigt sich größtenteils unempfänglich für die Argumente der jeweiligen Sitznachbarn. Nach gemeinsamen Lösungen wird nicht gesucht, ebenso wenig weitet sich der Blick auf die möglichen Formen der Zukunftsgestaltungen, wie sie immer wieder in Theatern und der künstlerischen Forschung eruiert werden. In einer früheren Ausgabe des ZEIT Forum Kultur, unter der Intendanz von Heiner Goebbels, wurde spezifisch im Kontext der Ruhrtriennale nach „kultureller Alphabetisierung“ und einer „Kunst des Nicht-Verstehens“ gefragt. Nun treten, unter der losen Rahmung des Geschichtsbezugs, Redner auf den Spielplan, die querfeldein die Probleme unserer Vergangenheit und Gegenwart erörtern und darüber hinaus nicht vergessen, sich selbst darzustellen. Braucht es dafür die Bühne eines Theaterfestivals, auf der sich so auch eine Wochenzeitung profilieren kann? Die Chance auf einen Dialog mit den anwesenden Besuchern, mit Bewohnern des Ruhrgebiets, mit Künstlern oder Verantwortlichen des Festivals wird jedenfalls kaum genutzt. Lediglich drei Wortmeldungen werden zugelassen, bevor Joffe, mehr als pünktlich, das Gespräch nach den angesetzten 90 Minuten einstellt. Er müsse jetzt „noch schlimmer sein als Orbán und den Talk beenden“. Aufgewühlt und voller Redebedarf verlässt man die Veranstaltung, die im nächsten Jahr hoffentlich etwas partizipativer und länger gestaltet wird. Immerhin nimmt man mindestens zwei Dinge mit nach Hause: eine gratis Ausgabe der aktuellen ZEIT und einen Hauch von Roths Glauben an eine bessere Zukunft.