Das zweite Premierenwochenende im Schauspielhaus Bochum endet mit der Uraufführung von Christoph Nußbaumeders Das Fleischwerk, das – nach Eisenstein und Mutter Kramers Fahrt zur Gnade – extra für die Bochumer Bühne geschrieben wurde. Robert Schuster zeigt die katastrophalen Zustände in deutschen Schlachtbetrieben, in denen das Leben des Wanderarbeiters nicht mehr wert ist als das eines Mastschweins. Trotz spitzfindig gedachter Dramaturgie und solider Regiearbeit bleibt ein drastischer Höhepunkt aus.
von ANNIKA MEYER
Es ist schon pervers, dieses blutige Geschäft mit der Fleischproduktion. In Deutschland werden jährlich über 58 Millionen Schweine geschlachtet, ihr Fleisch wird zu Spottpreisen in Discountern verkauft. Dies alles ist zugleich nur möglich, weil die Arbeiter, oft aus osteuropäischen Ländern auf semi-legalem Weg angeworben, ausgebeutet werden – miserable Arbeitsbedingungen mit zwielichtiger Rechtslage gepaart mit schlechter Bezahlung. Es geht allein um den Gewinn; an Mensch und Tier verdient man, aber man sorgt sich nicht um ihr Wohlergehen. Unter solchen Bedingungen siedelt Nußbaumeder sein Stück an und prangert die tatsächlichen unmenschlichen Zustände der Fleischindustrie an.
Ein Fleischwerk irgendwo in Westdeutschland verbindet die Lebensläufe mehrerer armer Teufel: Daniel Rabanta (Bernd Rademacher), gerade aus dem Gefängnis entlassen und an Krebs erkrankt, lässt sich von Subunternehmer Akif (Roland Bayer) anstellen, um Schweine zur Schlachtbank zu fahren. Naiv und ohne Alternativen, kommen ihm erst Bedenken, als er angetrunken Susanna (Minna Wündrich) anfährt, die aus Bulgarien gekommen ist, um ihren Mann Andrei (Matthias Kelle) zu rächen. Dieser war als Wanderarbeiter in Akifs Schlachtbetrieb angestellt, wurde dort aber lästig, da er die schlechten Arbeitsbedingungen und die Lohnsklaverei hinterfragte und anklagte, denn: „Wo kein Richter, da kein Recht – also muss man selber dafür kämpfen.“ Wie eins der Tiere, die er täglich verarbeiten musste, wurde er letztendlich zur Strecke gebracht. Nußbaumeder zeigt Handlungsstränge parallel, aber nicht chronologisch – die Zeitebenen überlagern und vermischen sich. Daraus könnten viele Wendungen und Überraschungsmomente entstehen, stattdessen sind die Entwicklungen relativ vorhersehbar, die Inszenierung ist kühl und beklemmend, aber nicht atemraubend.
Tragische Gestalten eindringlich verkörpert
Doch langweilig ist der Abend keineswegs: Das Ensemble ist gut aufgelegt und präsentiert sehr anschaulich die Lebensumstände im und um das Fleischwerk. Nicht nur Bernd Rademacher verkörpert wundervoll nahegehend den langsamen Verfall Rabantas, der seine Krebsdiagnose nur Akif und Susanna anvertraut, auch Anke Zillich als Rabantas naive Schwester Gabi überzeugt mit ihren kleinen Gesten und Stimmnuancen auf ganzer Linie. Günther Alt als ortsansässiger Schweinemäster Weidenfeller sorgt bei aller Schwere des Abends für kleinere Schmunzler, wenn er sich zum Beispiel von Valentia (Veronika Nickl), einer rumänischen Arbeiterin, die später als Hure arbeitet, fast schon in Pulp-Fiction-Manier im Puff die Füße massieren lässt. Einzig Matthias Kelle als Andrei bleibt etwas flach und mimt den entfernten sehnsüchtigen Ehemann überzeugender als den aufrührerischen Arbeiter. Matthias Eberle spielt, als angepassterer und hypernervöser Georgi, der aus Andreis Dorf kommt und als Vorarbeiter angestellt ist, Kelle einige Male an die Wand. Und Roland Bayer gibt der Figur des Akif eine erschreckende Mischung aus Gerissenheit und Leutseligkeit.
Ein steriler Lamellenvorhang, zwei Fließbänder, Fleischerhaken und die kleine bewegliche Wohnung Rabantas ist alles, was es auf der Bühne (Sascha Gross) braucht, um schnelle und elegante Szenenwechsel zu vollführen und eindrückliche Bilder zu zeigen. Der Vorhang dient dabei oft als Leinwand, auf der mal Andrei und Susanna beim Videochat gezeigt werden oder eine Straße bei Nacht befahren wird, während von der direkten Handlung gelöste Prosatexte zum Besten gegeben werden, die u. a. die Viehtransporte oder den Anführer des römischen Sklavenaufstands Spartacus thematisieren. Generell entstehen so viele schöne Text- und Bild-Collagen, die die meist düstere Stimmung vorantreiben.
Dichte Worte statt Kunstblut
Man könnte meinen, dass eine Szenerie wie ein Schlachtbetrieb zu drastischen Aufnahmen und einer Menge Kunstblut verlocken würde. Doch weit gefehlt – nicht nur, weil hier der Mensch, nicht das Tier im Fokus steht, verzichten Schuster und sein Team weitestgehend auf die Demonstration des Schlachtprozesses. Nußbaumeders Schilderungen sind dicht genug, um dem Zuschauer das Geschehen nahezubringen, Toneinspielungen untermalen die Grausamkeiten, die die Menschen einander und ihrer späteren Speise antun. Das tote Schwein sehen wir trotzdem – mit ausgemergeltem Kopf und lediglich daran herabhängender gegerbter Haut, fast wie ein morbides Kuschelkissen, das die schwarz vermummte Veronika Nickl hin und wieder als Puppenspielerin zum Einsatz bringt. Viel mehr Abstraktion und Drastik bietet der Abend nicht. Zum Nachdenken regt er jedoch allemal an, wenn der Zuschauer beim nächsten Frühstück herzhaft in sein Wurstbrötchen beißt, das vielleicht mit Blut und Schweiß von Mensch und Tier produziert wurde.
Informationen zur Inszenierung
Nächste Vorstellungen:
Samstag, der 19. September
Mittwoch, der 30. September
Sonntag, der 04. Oktober