Ende 1989 gerät die DDR durch friedliche Massenproteste der Bevölkerung ins Wanken, plötzlich öffnet sich der Weg zur Wiedervereinigung. Alle (5) Jahre wieder erinnern verschiedene Medien daran, zunehmend auch Comics. Im Reigen der Wende-Comics ist PM Hoffmanns und Bernd Lindners Herbst der Entscheidung allerdings eine Enttäuschung.
von CHRISTIAN A. BACHMANN
Herbst der Entscheidung ist PM Hoffmanns erster Comic genannt Graphic Novel; geschrieben wurde er von dem Kultursoziologen und DDR-Historiker Bernd Lindner. Erzählt wird die Geschichte des Teenagers Daniel, der Ende 1989 in die politischen Unruhen in der DDR verwickelt wird. Das geschieht allerdings nicht etwa, weil Daniel Krüger ein Held wäre, der sich gegen die Unterdrückung durch den Sozialismus auflehnt. Es geschieht, nicht weil Daniel starke Meinungen zu Unterdrückung oder Demokratie hätte. Nicht einmal, um sich als Sohn eines linientreuen Uni-Professors für Politische Ökonomie gegen die Generation der Väter aufzulehnen, bringt sich Daniel in die Proteste ein. Nein, es geschieht, weil er zufällig mitbekommt, wie ein paar Nachbarn Banner für eine Demonstration vorbereiten. Seine kritische Haltung zur SED-Regierung erschöpft sich in der in Denkerpose vorgetragenen Frage: „Warum kann man nicht einfach so studieren, ohne diese blöden drei Jahre bei der Armee? Ich will doch nur Kulturredakteur werden, kein Kulturoffizier!“ Er bleibt dann beim politischen Widerstand, weil er sich in eine der Nachbarinnen verliebt. Sein Beitrag zum Protest besteht darin, Flyer zu verteilen und zur richtigen Zeit die Faust gen Himmel zu strecken. Nein, ein Held ist Daniel Krüger wahrlich nicht. Am Ende steht er zwischen dem Zusammenbruch der DDR, präsent durch seinen obsolet gewordenen Vater, und seiner Freundin, die für eine neue DDR steht. Falls ihn der Herbst der Entscheidung etwas gelehrt hat, dann zumindest nicht Entscheidungsfindung, denn weder mit Stefan Heyms Entweder, noch mit dessen Oder kann er etwas anfangen (Für unser Land).
Leere Gesten
Hoffmann mag Gesten, nur füllt er sie selten. Kaum dass einmal nicht irgendeine Figur eine Faust ballt, einen Finger streckt oder die Hand grüblerisch ans Kinn legt. Das ist alles sehr expressiv, dabei bleiben die Mienen oft seltsam unberührt und wollen gelegentlich nicht recht zu den Sprechblaseninhalten passen. Die Figuren wissen anscheinend nicht, ob sie zu „entweder“ tendieren, oder doch zu „oder“, und signalisieren gestisch das eine, verbal das andere und mimisch ein unentschlossenes Dazwischen. Hoffmann weiß durchaus, welche narrativen und affektiven Mittel dem Comic zur Verfügung stehen und zeigt das auch, zum Beispiel wenn er Figuren aus den Bildern lässt. Nur geschieht das zu häufig und zu undifferenziert. Kritische Leser/innen fragen sich: Warum diese Menge? Nur grob ein Fünftel der 80 Seiten kommt ohne aus. Die lediglich interessierten Leser/innen stumpfen wohl eher ab, und der Effekt, der sonst pointiert genutzt werden könnte, wird so verschenkt.
Fakt und Fiktion
Eine Grundlage von PM Hoffmanns Erstling waren Fotografien, die er digital übermalt hat. Zumindest einige seiner Vorlagen kann man mit der Google Bildersuche ausfindig machen. Ein Beispiel dafür ist das Karl Marx gewidmete Bronzerelief am Hauptgebäude der ehemaligen Karl-Marx-Universität Leipzig. Hoffmanns Vorlage für das Bild findet sich in einem Tagesspiegel-Artikel, was man leicht an Details wie den Fahrrädern im Hintergrund und den auf Kipp gestellten Fenstern erkennen kann. Hoffmann lebt zwar in Leipzig und hätte sich das Werk vor Ort anschauen können, doch 2006 wurde es abmontiert. Ein Comiczeichner muss Bilder finden, um mit ihnen zu erzählen, und bei einem historischen Thema ist es durchaus naheliegend, historische Artefakte heranzuziehen. Aber die historische Authentizität, die suggeriert wird, wenn mit offensichtlich als Foto-Bearbeitungen erkenntlichen Bildern operiert wird, ist trügerisch, denn was nicht passt, muss passend gemacht werden. Da werden Fotos gespiegelt, Blickwinkel geändert, Gebäude verkürzt, Elemente verschoben oder ‚fehlende‘ Teile ergänzt – nur sind diese Änderungen nicht in der gleichen Weise als Eingriffe markiert, wie die Bilder an sich durch ihre Erscheinung als historische Quellen. Es gibt durchaus Wende-Comics, die anders verfahren.
Meh.
Manche Darstellungen der Demonstrationen, die Ende 1989 die ZK-Regierung herausfordern, wirken aufgrund dieser Collagetechnik wie Architekturzeichnungen. Sie kennen das vielleicht – im Mittelgrund eine Zeichnung des Gebäudes und im Vordergrund eingeklebte Staffage: Menschen auf Rädern, Autos etc. – so richtig passen sie nie zusammen, schon weil die Perspektive nie wirklich stimmt. Im Feuilleton wurde der Comic gelobt, wie man der Verlagsseite entnehmen kann. Von „Zeichnungen voller Atmosphäre“ (Ute Grundmann, Der Freitag) und dem gelungenen „Spagat zwischen Fakten und Emotionen“ (Oliver Seifert, Freie Presse), der den Comic auszeichne, kann man da lesen. Nach mehrmaliger Lektüre finde ich weder das eine, noch das andere passend. Die spröden Zeichnungen und stumpfen Figuren nehmen den Ereignissen des Herbsts 1989 leider die Sprengkraft. Inhaltlich wichtig, erzählerisch fad, zeichnerisch zu viele Gesten und zu wenig Substanz. Im Englischen sagt man dazu: Meh.
PM Hoffmann/Bernd Lindner: Herbst der Entscheidung. Eine Geschichte aus der Friedlichen Revolution 1989
Ch. Link, 96 Seiten
Preis: 15 Euro
ISBN: 978-3-86153-775-5