Schlimm, wenn ein Roman nicht berührt. Schlimmer, wenn ein Roman über die Shoa den Leser kaltlässt: Jan Himmelfarb legt mit Sterndeutung ein Debüt vor, das reflektiert vom jüdischen Leben zwischen Drittem Reich und Nachwendezeit erzählen will – und sich hoffnungslos in seinen eigenen Ansprüchen verheddert.
von LINA BRÜNIG
Vielleicht hätte schon der Klappentext misstrauisch machen sollen: Da wird einem ein „Familien- und Generationenroman“ versprochen, der „lebendig, komisch, hart“ eine Geschichte „von Stalingrad 1941 bis ins Ruhrgebiet der 90er-Jahre“ erzählen will. Was man tatsächlich bekommt: die Gedanken und Aufzeichnungen des 51-jährigen Arthur Segal, Flüchtling aus der Sowjetunion, der als Übersetzer arbeitet und sich mit der Vergangenheit seiner jüdischen Familie beschäftigt. Segal schreibt an einer Art Familienchronik. Dabei setzt Himmelfarb in einer Reminiszenz an Grass’ Blechtrommel einen zweifelhaften Kunstgriff ein: Seine Hauptfigur ist anscheinend mit einem übermenschlichen Erinnerungsvermögen ausgestattet, das es ihm erlaubt, seine Erlebnisse als Säugling und Kleinkind während des Zweiten Weltkriegs selbst zu erzählen. Dies tut er aber leider so langatmig und unbeteiligt, dass man teilweise schon ungeduldig geworden ist, wenn die Handlung endlich wieder in die Gegenwart springt – ein drastischer Befund, wenn man bedenkt, dass es Pogrome und Massenmorde sind, die hier Langeweile auslösen. Doch wer dann auf der Erzählebene der Gegenwart einfühlsame und – wie vom Verlag versprochene – komische Beobachtungen aus dem Alltag einer jüdischen Familie in der frisch wiedervereinigten Bundesrepublik erwartet, wird ebenfalls enttäuscht. Es tummeln sich lediglich bedeutungsschwangere Dialoge, in denen allgemein Bekanntes wiederholt wird, und pseudo-tiefgründige politische Reflexionen, die zudem von keinem interessanten Plot zusammengehalten werden:
„Müssen die Deutschen irgendwas Besonderes tun?, fragte ich.
Auf keinen Fall, sagte Roth. In Wirklichkeit muss ausschließlich pünktlich zur Arbeit gegangen und Diebstahl, Raub und Mord vermieden werden. Es heißt, die Nachgeborenen trügen eine Verantwortung oder etwas in der Art.“
Viele Informationen, wenig Substanz
Der größte Etikettenschwindel ist allerdings, den Protagonisten als Suchenden zwischen Vergangenheit und Gegenwart des jüdischen Lebens auszugeben. Arthur Segal tastet sich nicht an seine eigene Identität heran, sondern referiert permanent in apodiktischem Duktus und gestelzter Sprache Zahlen und Daten über die Shoa. Etliche historische Begebenheiten reihen sich in seiner Erzählung anekdotisch aneinander und erwecken den fatalen Eindruck von angelesenem Halbwissen und fehlender Authentizität. Fast wirkt es, als wolle der Autor beweisen, wie gründlich er sich mit jüdischer Geschichte und politischem Zeitgeschehen beschäftigt hat: von Baal Schem Tov, dem Rigaer Ghetto über den Brandanschlag auf ein Lübecker Asylbewerberheim 1996 bis zur amtlichen Regelung von Russischkursen für Russen in Deutschland. Doch leider lässt einen das kalt, weil Himmelfarb bei alldem eines nicht liefert: glaubwürdige Figuren statt blutleerer Abziehbilder.
Andere jüdische Autoren der Enkelgeneration haben sich der Re-Konstruktion einer verlorenen Familiengeschichte deutlich überzeugender gewidmet. Sowohl Jonathan Safran Foer mit Everything is illuminated als auch Katja Petrowskaja mit Vielleicht Esther haben beispielsweise ihre Romane als Rechercheprojekte angelegt, in denen sie ihre lange Suche, ihre Zweifel und vor allem die Rolle der Literatur bei der Er-Findung familiärer Schicksale sensibel und ästhetisch eigenständig verarbeiten. Sie haben gezeigt, wie aus der von Brüchen und Lücken geprägten jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts große Literatur werden kann. Jan Himmelfarb hat dies auch versucht – wird sich aber hier nicht einreihen können.
Jan Himmelfarb: Sterndeutung
C.H. Beck, 394 Seiten
Preis: 21,95 Euro
ISBN 978-3-406-67486-0