Wer wir sind und wie wir waren

Cover: "Alle Nähe fern" André Herzberg Quelle: Ullstein

 

In seinem neuen Roman Alle Nähe fern gelingt André Herzberg, bekannt als Sänger der DDR-Band Pankow, ein lakonischer – und vermutlich gerade deshalb besonders eindrucksvoller – Abriss deutsch-jüdischer Geschichte im 20. Jahrhundert.

von KATJA PAPIOREK

Alle Nähe fern ist ein Familienroman. Erzählt wird die Geschichte der jüdischen Familie Zimmermann, die über drei Generationen hinweg von den historischen Ereignissen und politischen Umbrüchen im Deutschland des 20. Jahrhunderts geprägt wird, denn: „unser Blut geht schon lange in deutsche Erde […].“ Die Zeitspanne erstreckt sich also von der Kaiserzeit über den ersten Weltkrieg, die NS-Zeit und die DDR bis in die Gegenwart. Dabei wird eine Genealogie angerissen, die zurückreicht bis zu den Stammeltern Abraham und Sara.

Trugbild Familie

Zusammengetragen wird die Familiengeschichte vom Ich-Erzähler Jakob Zimmermann, der sich bereits zu Beginn des Romans als „Mitte“ und als „Familie“ bezeichnet. Doch das harmonische Bild der Zusammengehörigkeit erweist sich als illusorisch. Die Familie ist (nicht nur räumlich) zerrissen. Die ständige Bedrohung hat die einzelnen Mitglieder vor allem während des zweiten Weltkrieges über den gesamten Globus verteilt. Generationsübergreifende Konflikte, die meist zwischen Vater und Sohn ausgetragen werden und deren Ursache in der Regel unterschiedliche politische Ansichten sind, lassen den Kontakt untereinander abbrechen. Man ist einander fremd (geworden) und es scheint unmöglich, die Risse zu überwinden.

In kurzen Kapiteln, die abwechselnd von den in die ganze Welt versprengten Zimmermanns berichten, schildert André Herzberg weitestgehend chronologisch ein deutsch-jüdisches Familienschicksal. Sein Ton ist nüchtern, lakonisch, schnörkellos, selbst dann nicht anklagend, wenn konkret von Auschwitz und Buchenwald die Rede ist, von der Judenverfolgung, dem erlittenen Unrecht der Familie. Im Zentrum des Textes stehen Fragen der (jüdischen) Identität, der Zugehörigkeit (zu einer Familie, einem Land, einer Religion oder einer Partei) und der Entfremdung. Dabei wird deutlich, welchen Einfluss historische Ereignisse über Generationen hinweg bis in die Gegenwart haben: „Meine Geschichte ist auch die Geschichte meiner Vorväter, also im Wesentlichen die meines Großvaters, Vaters und meine.“

Nichts, was uns trennt

Für den Ich-Erzähler begründen sich damit Traumata, die in der eigenen Familiengeschichte wurzeln und sein (unstillbares) Bedürfnis nach Nähe. Dass er dieses Bedürfnis nicht nur für sich selbst beansprucht, zeigt sich spätestens dann, wenn er auf eine Differenzierung zwischen den Nachkommen der Opfer und Täter verzichtet: „Nach siebzehn Jahren Analyse habe ich nichts entdeckt, was uns im Innern trennt, ob Juden oder Deutsche, wir sind alle Menschen, die sich vor allem nach einem sehnen, nach Liebe. Alle haben diese Sehnsucht in sich, alle haben traumatische Erfahrungen in ihrer Kindheit gemacht, bei jedem anders, aber immer traumatisch.“ Eine Feststellung, die für die vorangegangene Generation noch undenkbar war.

Nun sind Familiengeschichten nicht neu, generationsübergreifende Konflikte können kaum noch überraschen und die literarische Aufarbeitung der Ereignisse des 20. Jahrhunderts ist (nicht nur) in der deutschsprachigen Literatur fest verankert. Herzberg gelingt es trotzdem zu überzeugen, indem er einen Ton findet, der durch seine Nüchternheit zunächst überrascht, dann aber einen ganz eigenen Sog entwickelt.

 

André Herzberg: Alle Nähe fern
Ullstein, 272 Seiten
Preis: 21,00 Euro
ISBN: 978-3-550-08056-2

 

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