
Philipp Noack, Raphaela Möst, Lisa Henrici, Ines Krug in “Ich habe nichts zu verbergen – Mein Leben mit Big Data” (UA) von Hermann Schmidt-Rahmer; Schauspiel Essen – Foto: Martin Kaufhold
Nachhilfe in Sachen Medienkompetenz gefällig? In Ich habe nichts zu verbergen – mein Leben mit Big Data beleuchtet das Schauspiel Essen schlaglichtartig das Ineinandergreifen von informationstechnologischem Wandel und unserem Alltag. Was seicht beginnt, entwickelt binnen kürzester Zeit einen beklemmenden und tragikomischen Sog.
von CHRISTOFER SCHMIDT
Der moralische Zeigefinger hat ausgedient: Seine neue Aufgabe besteht im Wischen und Wechseln von Bildschirmoberflächen. Demgemäß verzichtet Autor und Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer in seiner Inszenierung auf normative Vorgaben und lässt das Essener Ensemble unterschiedliche Situationen durchspielen, in denen die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche exploriert wird. Einen „Wisch“-Finger findet man hier im vorderen Bühnenrand als überdimensionale Pappfigur, die einen Tablet-ähnlichen Screen zu berühren scheint. Mittels Leinwand werden bedeutungsschwangere Worte, ein innovatives Kaffeekassen-Ranking-System und das Premierenpublikum selbst darauf projiziert. Letzteres natürlich, um das Stück an die Reaktionen des Publikums anzupassen und die darstellerische Leistung dahingehend zu optimieren. Ein selbstreferenzieller Seitenhieb auf die allgegenwärtige Statistik-Besessenheit, vor der auch die Institution Theater nicht gefeit ist.
Die immer wieder aufbrechende Handlung wird von einer stereotypen Kleinfamilie getragen, bestehend aus Vater und Mutter mit zwei Kindern. Über sie werden divergierende Haltungen bezüglich unseres Umgangs mit der virtuellen Realität durchexerziert: Vater Jaron (Daniel Christensen) – dem amerikanischen Informatikpionier Jaron Lanier nachempfunden – hüpft im senfgelben Bademantel aufgeregt über die Bühne, verfällt wiederholt in Schreitiraden und schwingt dabei lässig seine zotteligen Dreadlocks. Zu Beginn wird er als visionärer Fortschrittsgläubiger porträtiert, mutiert im Verlauf des Abends jedoch zum desillusionierten Überwachungs-Verweigerer. Seine Tochter Lisa (Lisa Heinrici) mimt die unreflektierte Jugendliche, die nachlässig ihre Privatsphäre veräußert, Mutter Ines (Ines Krug) hingegen die kettenrauchende und besorgte Internetskeptikerin. Baby Big Data (Jan Pröhl), des Vaters ganzer Stolz, ernährt sich von Algorithmen, was ihm dabei hilft, neues Wissen zu erwerben und seine Umwelt zu analysieren. Kein Wunder also, dass der Wonneproppen nicht allzu lang im Kreise der Familie weilt, sondern von Eric und Larry (Google) beschlagnahmt wird.

Lisa Heinrici, Ines Krug, Daniel Christensen in “Ich habe nichts zu verbergen – Mein Leben mit Big Data” (UA) von Hermann Schmidt-Rahmer; Schauspiel Essen – Foto: Martin Kaufhold
Rundumschlag im digitalen Chaos
Als böte diese Konstellation nicht schon ausreichend Material für eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Big Data, lädt sich Lisa auch noch eine App-Assistentin (Raphaela Möst) herunter, die fortan in personifizierter Form mal als Life-Coach, Freundin oder Ausspähprogramm ihre Dienste zur Verfügung stellt. Sie fungiert als wandelnde Zahlenauswertungsmaschine und veranschaulicht so die eigentlich undurchsichtigen Sammel- und Korrelationsprozesse der datenverarbeitenden Technologien. Dabei rollt sie hyperaktiv wie ein junger Jack-Russel auf dem Familiensofa herum und japst: „Du kannst mir alles sagen, ich kann dir auch alles sagen“. Plötzlich ist niemand mehr vor ihrem alles durchschauenden Blick sicher. Versuche, sich aus der virtuellen Umwelt auszuklinken, stellen auch keine Alternative dar, denn dadurch werden ebenfalls Daten produziert, über die man kategorisiert und durch Korrelationen mit ähnlichen Fällen in eine Schublade mit Terroristen und Pädophilen gesteckt wird. Diese Lektion muss auch Mutter Ines machen, deren Fluchtversuch ins Publikum zum Scheitern verurteilt ist.
In den einzelnen Szenen thematisiert Schmidt-Rahmer nicht nur den gegenwärtigen Stand der Dinge, sondern entwirft auch Zukunftsszenarien, die in ihrer bedrückenden Darstellung den totalitären Observationsfantasien eines George Orwell in nichts nachstehen. Doch die skizzierte Perspektive ist ambivalent. Sie lässt auch das utopische Potenzial einer völlig berechenbaren Welt durchscheinen: Weniger Lebensmittelverschwendung, geringerer CO2– Ausstoß und bessere Work-Life-Balance sind nur einige Möglichkeiten, die durch das Transparentmachen aller Daten Realität werden könnten. Als Kontrastfolie zur oft zitierten German-Angst kommt auch die kalifornische Silicon Valley-Mentalität zu Wort. Für Google Mitbegründer Larry Page stellt der technologische Fortschritt ein „metaphysisches Projekt“ dar. In einem Videoausschnitt erörtert er, dass man die Welt mittels Datenauswertung „jeden Tag ein bisschen besser machen kann“. Wahnwitziger Irrglaube wirklichkeitsfremder Computernerds oder stehen viele von uns den digitalen Umwälzungen einfach zu kritisch gegenüber?
Mehr davon!
Ursprünglich war das Stück für die letzte Spielzeit vorgesehen, doch wegen sozialpolitischer Ereignisse nahm man stattdessen Wir sind die Guten – ebenfalls in einer Inszenierung von Schmidt-Rahmer – ins Programm. Ein Glück, dass Ich habe nichts zu verbergen – mein Leben mit Big Data nun doch noch Premiere feiern konnte, schließlich hat es von seiner Aktualität nichts eingebüßt. Die Spiegelung unserer Gegenwart und nahenden Zukunft fasziniert und tut weh. Nichts Geringeres als unser ontologisches Selbstverständnis steht auf dem Spiel, sobald wir freiwillig sämtliche Autonomie abstreifen, um uns von Rechenmaschinen durchs Leben dirigieren zu lassen.
Es ist der klugen Dramaturgie zu verdanken, dass das Stück, trotz zahlreicher Brüche und Exkurse, in denen die unterschiedlichsten Aspekte des virtuellen Daseins eruiert werden, nicht auseinanderfällt. Die Integration von Kameras und Monitoren liegt inhaltlich auf der Hand, dennoch wirkt so mancher Einsatz der Bühnentechnik unmotiviert. Hier hätte man mehr auf die Überzeugungskraft der intelligenten Texte und Figuren vertrauen können. Das schablonenhafte Schauspiel der Darsteller schafft zunächst eine ironische Distanz, hinter der sich jedoch nach und nach tiefe Abgründe auftun. Zweieinhalb Stunden später hat man das Gefühl, dass keine Thematik ausgespart wurde und das Publikum, sichtlich überwältigt, einen außergewöhnlich intensiven Theaterabend erlebt hat.
Informationen zur Inszenierung
Nächste Termine:
Donnerstag, der 15. Oktober
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Samstag, der 14. November