Diese Spielzeit wird Schirachs Theater-Erstling Terror knapp 20 Mal auf deutschsprachigen Bühnen aus der Taufe gehoben. Die Bühne wird zum Gerichtssaal, die Zuschauer zu Schöffen – zu den alleinigen Bestimmern des Ausgangs. In Düsseldorf wurde die Inszenierung von Kurt Josef Schildknecht nun völlig zu Recht mit stehenden Ovationen bejubelt.
von HELGE KREISKÖTHER
Der Strafverteidiger Ferdinand von Schirach (Jahrgang 1964) ist den meisten inzwischen als Autor von Kurzgeschichten und Essays (zuletzt Tabu und Die Würde ist antastbar) bekannt. Sein Verdienst ist es zweifellos, juristisch vertrackte – und oftmals hoch emotionale – Fälle literaturfähig gemacht zu haben (obgleich man sich über seinen parataktischen Prosastil streiten mag). Das ZDF sendete bereits prominent besetzte Kriminalserien nach seinen Bänden Verbrechen und Schuld. Schirachs Debüt als Theaterautor war also beinah überfällig.
Terror lautet der simple wie effektvolle Titel des brandaktuellen Thaterstücks: Hier stellt Schirach einen Bundeswehr-Kampfpiloten als Angeklagten in den Fokus, über dessen (Un-)Schuldigkeit letztlich das Publikum – alias: die verehrten Schöffen – zu urteilen hat. Was aber wird Lars Koch zur Last gelegt? Nichts Geringeres als 164-facher Mord. Gegen seinen ausdrücklichen Befehl hat er ein Passagierflugzeug abgeschossen, das von einem Terroristen entführt worden war und sich in unmittelbarem Flug auf ein ausverkauftes Münchener Fußballstadion befand. Für die einen ist Lars Koch danach ein Held, der in einer Ausnahmesituation die Nerven behielt und das größere Übel durch Inkaufnahme des kleineren Übels zu verhindern wusste; für die anderen ist er vielmehr ein verantwortungsloser Verbrecher, der mittels eines leichtfertigen Knopfdrucks hunderte Menschenleben ausgelöscht hat. In diesem Sinne tragen schließlich die Staatsanwältin bzw. der Verteidiger ihre Plädoyers vor, bevor das Publikum „zur Urteilsfindung“ in die Pause entlassen wird. 20 Minuten Zeit hat nun jeder – zumindest in Schildknechts Inszenierung –, um alle gehörten Argumente gegeneinander abzuwägen und sich zu entscheiden, ob er den Eingang zur zweiten Hälfte, welche dann nur noch der „Urteilsverkündung“ dient, unter der Aufschrift „Schuldig“ oder „Nicht schuldig“ durchschreiten möchte. Die Einlassdamen zählen jede Stimme. In Düsseldorf hieß das am Ende: 326 für Freispruch, 256 dagegen. Die Premierenurteile aus den erwähnten übrigen Theatern sind indes online einsehbar.
Die Suche nach dem erlösenden Universalargument
Das Bühnenbild (Heinz Hauser) erinnert an die laufende Bochumer Inszenierung der Hexenjagd: Im Fokus steht ausschließlich der Gerichtssaal – modern, symmetrisch, grau glänzend. Musik- oder Videoeinspieler gibt es nicht (abgesehen von einer Frontkamera für den Betreffenden im Zeugenstand): Alles konzentriert sich auf die Verhandlung, wird zum Gegenstand der Verhandlung. Verallgemeinert ist der Fall des Lars Koch (Moritz von Treuenfels), welcher zwischen der Anzahl zu rettender Menschenleben abwägen muss, ja mittlerweile überaus populär, längst dient er im Philosophie- und Ethikunterricht als Paradebeispiel, als Konkretisierung des schmerzlichen Unterschieds zwischen amerikanischem Utilitarismus und europäisch-kantianischen Werten. Die mehrheitliche Intuition – gern auch als gesunder Menschenverstand proklamiert – würde den Piloten ohne jedwedes Zögern freisprechen. Er handelte aus edlen Absichten heraus, tötete 164 Menschen, um mehr als 400 mal so vielen (!) das Leben zu retten; explodiert wäre das Passagierflugzeug ohnehin spätestens beim Crash im Stadion. Auch Kochs Vorgesetzter Christian Lauterbach (Lutz Wessel) räumt ein, dass er ungeachtet des Befehls „Nicht abfeuern!“ wahrscheinlich genauso gehandelt hätte. An dieser Stelle kommt nun aber die Staatsanwältin Nelson (Nicole Heesters) an die Reihe: Sie denkt aus anderen Perspektiven und stellt unbequeme Fragen. Wieso kam niemand aus dem Krisenstab darauf, zu versuchen, das Stadion noch zu räumen? 52 Minuten wären immerhin geblieben. Und warum, dringt sie in den Angeklagten, sei er überhaupt so überzeugt davon, das Richtige getan zu haben? Nach seiner Schlussfolgerung dürften einem Mann mit gebrochenem Arm im Krankenhaus ungefragt die Organe entnommen werden, wenn dadurch fünf Patienten auf der Transplantationsliste das Leben gerettet würde.
Der fanatische Terrorist, so Verteidiger Biegler (Andreas Grothgar), lache sich nur ins Fäustchen, wenn die deutsche Verfassung scheinheilige Prinzipien über den Einzelfall stelle. Aber wäre, so wiederum Nelson, eine Rettung in letzter Minute nicht noch durch andere Mittel als einen Abschuss möglich gewesen? Wenn die Passagiere vielleicht das Cockpit gestürmt und gemeinsam den Terroristen überwältigt hätten, wenn der Pilot kurz vor dem Stadion die Maschine nochmal hochgezogen hätte – all dies lässt sich schlechterdings nicht mehr herausfinden. Verfassung oder persönliches Gewissen – das ist hier die Frage. Die Witwe eines Passagiers (Viola Pobitschka) liest schließlich eine SMS vor, in der ihr Gatte von der Entführung berichtet, aber auch seine Hoffnung auf eine Überwältigung des Terroristen ausdrückt. Was sie hinterher von ihm fand, sagt sie, war nicht mehr als sein unversehrter linker Schuh. Was sie und die Tochter beerdigen mussten, ein leerer Sarg. Juristisch tut dies nichts zur Sache – Schirachs Tragödie jedoch blüht durch dieses Einzelschicksal ungemein auf.
Passives Publikum passé
Selten erlebt man in einem Schauspielhaus derartige Publikumsempathie, selten freilich fordert das Stück so sehr zu einer solchen auf. Empörte Zwischenrufe und mehrfacher Szenenapplaus lassen erahnen, wie schnell jedermann Partei ergreift und wie turbulent es in den anderen deutschsprachigen Spielstätten vonstattenging bzw. gehen wird.
Erfreulicherweise gibt es innerhalb der stehenden Ovationen nach Schluss aber auch besonderen Beifall für die hervorstechenden Leistungen: Nicole Heesters brilliert als Staatsanwältin mit ihrem forsch-fachkundigen Auftreten, mit ihren präzisen Fragen, mitunter zynischen Anmerkungen – das Marketing rund um den prominenten Gast war also mitnichten heiße Luft. Moritz von Treuenfels – und durchaus auch Lutz Wessel – gelingt ferner das große schauspielerische Kunststück, emotionale Betroffenheit (beizeiten sogar Verwirrung und Wut) zu vermitteln, ohne dabei ins Weinerliche abzugleiten, was einer Figur im Dienstrang des Offiziers oder Majors schlichtweg die Glaubwürdigkeit nähme. Und so vorhersehbar der Zeugenauftritt einer Hinterbliebenen in einem solchen Szenario ist, umso berührender gestaltet ihn Viola Pobitschka. Einziger Wermutstropfen im Ensemble: Wolfgang Reinbacher mimt den Vorsitzenden zwar liebenswürdig und erklärt mittels bilderbuchartiger Dramaturgie-Sätze so manchen abstrusen Militärbegriff, insgesamt verkommt er jedoch leider zu einer Art „Erklär-Bär“ mit fragwürdiger Naivität. Seiʼs drum: Atmosphärisch dichte Theaterabende wie dieser lassen die Gedanken ungewohnt selten abschweifen und sind daher uneingeschränkt zu empfehlen. Davon ganz abgesehen ist es ein erhebendes Gefühl für den Zuschauer, eine Entscheidung treffen zu können – ja zu müssen! –, über die sich selbst Bundestag und Bundesverfassungsgericht nicht einigen konnten. Der große Schauspielwurf eines Juristen, der den Düsseldorfer Spielplan, ungeachtet der einen oder anderen dramaturgischen Schwäche, erheblich bereichert.
Informationen zur Inszenierung
Nächste Vorstellungen:
Dienstag, der 27. Oktober
Montag, der 2. November
Donnerstag, der 5. November
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