Ungeplante Auferstehung

COVER_Self_LeberknödelEine des Lebens überdrüssige Seniorin auf dem Weg in eine Schweizer Sterbeklinik: Die verwitwete Birminghamerin Joyce Beddoes sitzt im Flieger, der über die English Midlands Richtung Zürich gleitet. Aber darf man überhaupt einen „Termin“ zum Sterben vereinbaren? Mit zeitlosen Fragen rund um die Sinnsuche befasst sich der kürzlich ins Deutsche übersetzte Roman Leberknödel des britischen Schriftstellers Will Self. Ein Happy End scheint bereits am Anfang der schrägen Erzählung zu stehen – und dann kommt doch alles ganz anders.

von ANNA-LENA BÖTTCHER

Joyce Beddoes, Anfang siebzig und pensionierte Verwaltungsassistentin eines Krankenhauses, plagt Flugangst, und das, obwohl gerade sie den Tod unter allen anderen Mitreisenden am wenigsten fürchten sollte: Joyce hat unheilbaren Leberkrebs. In die Schweiz begleitet wird sie von ihrer erwachsenen Tochter Isobel, einer alkoholabhängigen Künstlerin aus London, die durch ihre Unselbstständigkeit maßgeblich dazu beiträgt, dass ihre Mutter ihr Lebensende möglichst autonom und rasch mithilfe der so genannten „Beihilfe zur Selbsttötung“ managen möchte, die in ihrem Heimatland verboten ist. Kaum hat Joyce jedoch Dr. Hohl, ihrem persönlichen „Suizidassistenten“, per Videoaufnahme versichert, dass ihr Tod ganz und gar freiwillig geschieht, kaum steht das Glas mit der giftigen Flüssigkeit vor ihr, zerfetzt sie aus einem Impuls heraus ihr Testament und nimmt Reißaus.

Die Leber als Titelheldin

Wie der Umschlagrücken von Leberknödel anpreist, ist er ein „brillanter Chronist der Neurosen unserer Zeit“: Will Self, britischer Schriftsteller und Journalist aus London sowie ehemaliges Mitglied der Punkband „The Abusers“, schrieb Leberknödel für eine vierteilige Short Story Collection, die bereits im Jahr 2008 in Großbritannien erschien und den Titel Liver: A Fictional Organ with a Surface Anatomy of Four Lobes trägt. Als wolle er, entgegen sämtlicher Autorenkollegen, die so oft das Herz Mittelpunkt sentimentaler Geschichten sein lassen, einem unterschätzten Organ endlich auch einmal seinen gebührenden Platz einräumen, stellt Self, der bekannt ist für seine grotesken, satirischen Themen, die Leber ins Zentrum des Geschehens aller vier Erzählungen. So taucht sie nicht nur im Titel des Romans Leberknödel auf, der übrigens auch im Englischen so heißt, sondern ist zugleich Grund für Joyces Leiden und Züricher Delikatesse, die in einer schmackhaften Suppe zubereitet das erste Mahl ist, das die Seniorin, gerade dem Tod entronnen, mit großem Appetit zu sich nimmt – nicht die einzige skurrile Szene des Romans.

Eine kuriose Gemeinde im Kampf gegen Sterbehilfe

So sehr es den Leser der ersten Romanseiten angesichts der kühlen Geschäftsmäßigkeit Joyces schaudert, so makaber die bürokratischen Absprachen mit Dr. Hohl wirken, samt schon bereitstehenden Leichensäcken vor der Tür des Sterbeappartements, so erleichtert möchte er nach der beherzt anmutenden Entscheidung der Britin aufatmen. Wie geht es nun jemandem, der dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen ist? Zunächst unternimmt Joyce genussvolle Spaziergänge in den Bergen, geht in Zürich einkaufen, das immerhin „die beste Lebensqualität der Welt“ besitzen soll, isst mit großem Appetit Schweizer „Röschti und Spiegeleier“ und genießt ihre zweite Chance in einer Stadt, die so ganz anders ist als Birmingham, das sie nicht vermisst. Und das eigentlich Verblüffende: Es geht der todkranken Engländerin plötzlich sogar gesundheitlich viel besser.

Eine zufällige Begegnung verleiht Joyces Geschichte jedoch schon bald die kuriose Wendung, auf die der Leser angesichts des verfrühten Happy Ends argwöhnisch gewartet hat: Die Seniorin trifft das Paar Ueli Weiss und Marianne Kreutzer und mit den beiden eine Hand voll weiterer absonderlicher Mitglieder der katholischen Gemeinde St. Anton, die ihre plötzliche Genesung für ein Wunder halten – nein, um beim „bürokratischen Jargon des Übernatürlichen“ zu bleiben –, für die „mutmaßliche Aussetzung der Naturgesetze“. Von jetzt an bestimmen ominöse Vorgänge die Handlung des Romans. Weil die Gemeinde schon seit langem ein strenges Auge auf Dr. Hohls „Machenschaften“ geworfen hat und ihm per Bürgerentscheid das Handwerk legen will, soll ein geistlicher Ehrenkaplan einen Bericht über den ungewöhnlichen Vorgang an den Diözesanbischof schreiben.

Scheiternde Suche nach Lebenssinn

Das Cover der deutschen Romanausgabe gleicht – in Kombination mit dem Titel Leberknödel paradox anmutend – dem goldenen Buchdeckel einer Bibel. Seine Unterkapitel heißen, vom Introitus bis zur Communio, wie die Werkgestalt des beliebtesten und letzten kirchenmusikalischen Werks Mozarts, dem Requiem, das Joyce noch im Birminghamer Heimatchor probte und dessen Verse ihr ununterbrochen im Kopf spuken. Ihr geschenktes Leben steht dazu scheinbar im Gegensatz, gleicht einer – wenn auch nicht geplanten – Auferstehung. Doch die Protagonistin ist trotz ihrer wundersamen Heilung und ihres „neuen“ Lebens keinesfalls glücklich. Ihre Probleme scheinen dieselben zu sein wie zuvor: Die Beziehung zu ihrer Tochter Isobel ist gestört, ihr Alltag einsam – schon bald überkommt sie ein neuer Lebensüberdruss. Und hatte Dr. Hohl nicht bei ihrer letzten Begegnung gesagt, dass ihre Anzahlung nicht verfalle und sie ihre Meinung jederzeit wieder ändern könne? Will Self mischt in Leberknödel viel schwarzen Humor mit genau der Nuance an Traurigkeit, die den Leser von Seite zu Seite nachdenklicher stimmt, und beleuchtet dabei auf tragikomische Weise die Frage nach dem Sinn des Lebens, indem er die herkömmlichen Antworten darauf überprüft und als leere Phrasen entlarvt.

 

Will Self: Leberknödel. Aus dem Englischen von Gregor Hens
Hoffmann und Campe, 203 Seiten
Preis: 18,00 Euro
ISBN: 978-3-455-40464-7

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