Intrigen, Verlust und Abhängigkeiten in der Sommerhitze der Pampa Oklahomas – in Tracy Lettsʼ Eine Familie (August Osage County) kommen alte Wunden und Streitigkeiten wieder zum Vorschein, als sich Familie Weston zusammenfindet, um erst das Verschwinden, dann den Tod des Vaters zu verarbeiten. Sascha Hawemann inszeniert einen fast vierstündigen Abend, der zwar selten langweilt, aber das Dortmunder Ensemble nicht von seiner besten Seite zeigt.
von ANNIKA MEYER
Zugegeben, es ist ein schweres Erbe, das in Dortmund versucht wird anzutreten. 2008 erhielt Tracy Letts für sein Drama den Pulitzer-Preis, 2013 wurde das Stück mit hochkarätiger Besetzung rund um Meryl Streep, Julia Roberts und Benedict Cumberbatch sehr gelungen verfilmt. Zudem beweist das Schauspiel Dortmund seit über zweieinhalb Jahren mit Kay Vogesʼ Inszenierung von Das Fest, dass es möglich ist, ein differenziertes und bewegendes Familienportrait auf die Bühne zu bringen, bei dem Humor und Verzweiflung, Eklat und Zusammenhalt nah beieinanderliegen. Nun gibt es also wieder eine zerrüttete Familie zu sehen, bei der die Fetzen fliegen und geweint, geschrien und geschlagen wird.
Als Vater Beverly (Andreas Beck), ehemaliger Dozent, Lyriker und Säufer, scheinbar spurlos verschwindet und später tot aufgefunden wird, reisen Tochter Barbara (Merle Wasmuth) mit ihrem Noch-Ehemann Bill (Carlos Lobo) und Teenie-Tochter Jean (Marlena Keil) sowie Tochter Karen (Bettina Lieder) mit ihrem Verlobten Steve (Frank Genser) zur Beerdigung an, auch um sich um die Formalitäten und ihre krebskranke, tablettenabhängige Mutter Violet (Friederike Tiefenbacher) zu kümmern. Die noch in der Nähe wohnenden Familienmitglieder – Violets Schwester Mattie Fae (Janine Kreß) mit Ehemann Charlie (Andreas Beck) und Sohn Little Charles (Peer Oscar Musinowski) und Violets jüngste Tochter Yvi (Julia Schubert) – versammeln sich ebenfalls im Haus. Hier erleben wir nun eine dysfunktionale Familie, die Verletzungen und Gemeinheiten von Generation zu Generation weiterzureichen scheint und in der jeder auf andere Weise versucht, sein Leben zu meistern und sein Glück zu finden.
Staub und Stille
Via Drehbühne (Bühne: Wolf Gutjahr) werden die verschiedenen Handlungsräume im und um das Haus der Westons gezeigt. Überall liegen Staub, Bücher, Aschenbecher und Pillendöschen herum – hier trifft Intellekt auf Exzess. Auf einer großen Leinwand sind – leider oft zu blasse – Schwarzweißaufnahmen zu sehen: eine verlassene Tankstelle, Straßenkreuzungen, nach der Nachricht von Bevs Tod dessen Foto. Die Rückseite der Leinwand prägen große Leuchtröhren, die die Schlagwörter des Abends bilden: EMPTY – SOULS – ALONE – DYING – QUIET. Die Bühne bietet viel Spielraum, mit wenigen Griffen und Requisiten wechseln die Szenen; so glaubwürdig sie aber auch eine beklemmende Atmosphäre erzeugt, so wenig werden alle Aspekte des Raumes bedacht – einige Szenen spielen derart weit am Rand der hinteren Bühne, dass nicht alle Zuschauer Einsicht ins Bühnengeschehen haben. Auch das akustische Verständnis bleibt dabei manchmal auf der Strecke: Alexander Xell Dafov, der auf und hinter der Bühne für die vielseitige Musik zuständig ist, spielt seine Instrumente wunderbar – als Sprecher und Schauspieler (er verkörpert die Haushaltshilfe Johnna) überzeugt er indes leider wenig. Doch auch das erfahrene Dortmunder Ensemble ist erstaunlich oft schlecht zu verstehen und hapert nicht nur mit der Lautstärke, sondern auch mit der Sprechgeschwindigkeit: Oft wären kurze Pausen wirkungsvoller, stattdessen wird vieles derart hastig vorgetragen, dass manche Versprecher fast schon unvermeidlich sind.
Wer hat Angst vor Violet Weston?
Tracy Lettsʼ Stück ist bitterböse, von familiärer Eintracht ist nur selten etwas zu erkennen. Wortgefechte und Beschuldigungen reihen sich an poetische und heitere Aussagen, doch in Dortmund mangelt es oft am Timing. Die Lacher im Publikum beruhen eher auf der Kunst des Dramatikers, weniger auf der Vortragsweise. Und auch die Charaktere gehen selten unter die Haut und an die Nieren: Friederike Tiefenbacher als neue Matriarchin versucht zwar mit (zu) starkem Körpereinsatz und rührseligem Gejammer, die Fäden in der Hand zu halten, doch hätte ihr hin und wieder berechnende Ruhe und Härte mehr Glaubwürdigkeit verliehen, wie sie sie schon als Martha in der Dortmunder Inszenierung von Wer hat Angst vor Virginia Woolf? präsentierte. Und auch Merle Wasmuth als älteste und der Mutter am meisten ähnelnde Tochter – selbst ihre Kleider sind dementsprechend farblich abgestimmt (Kostüme: Hildegard Altmeyer) – kann nicht überzeugen: Zu sehr wankt sie in ihrer Spielart zwischen überzogen-galanter Oberflächlichkeit und kindlicher Verzweiflung, zu unkontrolliert sind ihre Stimmungsschwankungen und zu unmotiviert scheinen ihre Handlungen. Auch die Rolle als Mutter eines Teenagers und als stärkste Widersacherin ihrer eigenen Mutter kann man der Ensemblejüngsten nicht abkaufen, dafür scheint die Chemie mit ihrem Bühnen-Ehemann Bill zu stimmen, obgleich manche Szene arg überzogen wirkt. Zumindest Julia Schubert und Bettina Lieder als Barbaras Schwestern – die eine als sich langsam emanzipierendes Mauerblümchen, die andere als überdrehte und verdrängende Optimistin – scheinen in ihren Figuren fassbarer und sorgen für mehr Authentizität auf der Bühne. Und auch Andreas Beck, der als betrunkener Beverly anfangs noch zu wenig pointiert spricht und spielt, mimt den gutmütigen und stotternden Onkel Charlie mit viel Herz und Finesse.
Die Strippen scheint bei diesem Familientreffen niemand zu ziehen – sei es aufgrund mangelhafter Charakterzeichnung oder fehlender Veranlagung der Bühnenfigur. Und so gibt es zwar einige wenige Höhepunkte, doch eine wirkliche Eskalation sucht man vergebens. Zu schwach ist Merle Wasmuths Ansage als Barbara, sie habe jetzt das Sagen, zu unmotiviert und unnötig sind viele Überspitzungen und Regieeinfälle. Natürlich gibt es auch gelungene Umsetzungen, wenn sich z. B. (Enkel-)Tochter Jean via Nebelmaschine bekifft und dabei wie ein typischer Teenie den desinteressierten Johnna vollplappert. Doch insgesamt ist vieles mangelhaft ausgearbeitet, scheint unüberlegt und überzogen. Wer sich also den Eindruck verschaffen möchte, dass die eigene Familie doch nicht so furchtbar ist wie immer angenommen, dem sei eher ans Herz gelegt, sich in Dortmund Das Fest anzugucken.
Informationen zur Inszenierung
Nächste Vorstellungen:
Freitag, der 30. Oktober
Mittwoch, der 11. November
Sonntag, der 22. November