Das Theaterfestival west off 2015 geht zu Ende. Mit dem Theatergame regere der Gruppe Progranauten sowie der Performance Feeding Fears von A Barrel of Monkeys verhandelt das FFT Düsseldorf komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge – auf der Bühne und außerhalb: So fragt es u. a. nach der Bedeutung des Zufalls, nach Privilegien und nach dem Gefühl, regiert zu werden.
von CHRISTOFER SCHMIDT und PHILIPP HANKE
west off 2015 macht mit Eigenproduktionen und Gastspielen junger Künstler – nach Aufenthalten in Bonn und Köln – nun auch Station im Düsseldorfer FFT.
Den Anfang bilden dabei die aus dem Bochumer Studiengang „Szenische Forschung“ hervorgegangenen Progranauten, die sich für ihre Arbeit regere mit dem Lichtkunstkollektiv Scheinzeitmenschen zusammengeschlossen haben und mittels Glücksrad und Regieanweisungen zum Spiel mit dem Zufall einladen. Im direkten Anschluss daran thematisieren die Performerinnen von A Barrel of Monkeys in Feeding Fears ebenso den Zufall: Sie stellen die aleatorisch bedingten Privilegien ihres Daseins zur Disposition und versuchen, sie angesichts der zahlreichen Ausschlussmechanismen, die diese zwangsläufig produzieren, aufzuheben: „Was können wir tun? Was ist richtiges Handeln?“, fragt Clara, um die krisengebeutelte Gegenwart zu retten.
Im sich daran anknüpfenden Gespräch zwischen Künstlern und Publikum, zu dem das FFT in Kooperation mit Cheers for Fears – einer Vernetzungsinitiative, die verschiedene Studiengänge im Bereich der szenischen Künste zusammenbringt – einlädt, wird das Gesehene gemeinsam reflektiert. Trotz einiger verbindender Elemente treten dabei vor allem die Unterschiede beider Arbeiten, sowohl in ihren jeweiligen künstlerischen Herangehensweisen als auch in ihren Haltungen im Hinblick auf die Bühne als Ort des gesellschaftspolitischen Agierens, in den Vordergrund. Diese kontrastierende Verknüpfung vergegenwärtigt zum einen die enorme Spannbreite zeitgenössischer szenischer Praktiken und erreicht zum anderen, was in den Inszenierungen – mehr oder weniger erfolgreich – forciert wurde: eine wirkliche Interaktion zwischen Publikum und Darstellern.
regere: Impro-Theater unter dem Deckmantel der Theorie
In regere betreten die Besucher zunächst einen Raum, der, vollgestopft mit buntem Bühnenbeiwerk, beinahe aus allen Nähten zu platzen droht: Ein gelber Regenschirm hängt neben Blockflöte und Matrosenjacke von der Decke, eine Toilettenschüssel erleuchtet den Saal mit ihrem strahlenden Weiß, eine grüne Gießkanne gerät zur Stolperfalle und auch ein herrschaftlich glitzerndes Glücksrad darf in diesem Sammelsurium nicht fehlen! Doch was hat es damit auf sich? Binnen elf Minuten, so die Vorgabe, ist das Publikum dazu angehalten, sich mit den zahlreichen Objekten und den dazugehörigen Dramentexten vertraut zu machen. Spätestens vor Tschechows Klassiker Der Kirschgarten macht es Klick, wenn man auf das bis oben hin gefüllte Glas eingelegter Kirschen schaut. Den Texten wurden jeweils – mal mehr, mal weniger assoziativ – Objekte entnommen und anschließend materialisiert.
Währenddessen ertönt ein Audiotrack, der peu à peu Informationen zur thematischen Grundlage dieser Arbeit einstreut: Es geht offensichtlich um Regieanweisungen. Zumindest vorgeblich. Auch der Programmzettel legt seinen Fokus darauf und fragt: „Was passiert, wenn man Regieanweisungen ihrem Kontext entreißt?“ Diese meist kurzen Anmerkungen in Dramen, die für gewöhnlich keine besonders große Aufmerksamkeit erfahren und die auch in der Wissenschaft bisher eher stiefmütterlich behandelt wurden, sollen also im Zentrum dieses Abends stehen. Ein Ansatz, der mehr als neugierig macht! Doch als die elf Minuten individueller Raumerschließung verstreichen und man guckkastenbühnengetreu außerhalb des Geschehens Platz nimmt und das (Theater-)Spiel beginnt, bleiben die Regieanweisungen zunächst einmal, wie eh und je, im Hintergrund.
Hintergrund und Vordergrund
Nach einer kurzen Umbaupause, in der sich die ZuschauerInnen mit jeweils einem Dramentext ausgerüstet haben, erklären Josefine Rose Habermehl und Ulrike Weidlich die Spielregeln: Zeigt der Pfeil des Glücksrads z. B. auf eine glitzernde Fläche, muss ein per Zufallsgenerator auserkorener Besucher die Regieanweisung vorlesen, die in dem von ihm ausgewählten Drama vorab markiert wurde. Die Aufgabe der beiden Performerinnen besteht dann darin, innerhalb von eineinhalb Minuten und unter Zuhilfenahme der jeweils zu den Büchern gehörenden und damit ausgewählten Requisiten eine mögliche Interpretation der Anweisung zu improvisieren. Ob die Darstellung in der Kürze der Zeit glückt und inwiefern sie den Erwartungen des Publikums entspricht, ist allerdings nicht weiter relevant.
So wird etwa die altbekannte Anweisung „geht ab“ umgedeutet und wir sehen die PerformerInnen zur selbst hergestellten Disco-Music „abgehen“. Diese Interpretationen mögen zwar durchaus unterhaltsam sein und auf den Spielraum zwischen Objekt, Sprache und Vorstellungskraft hinweisen, folgen dabei aber viel zu platten Bildern und Klischees. Die Polysemie der Textfragmente – eine zwangsläufige Folge der De-Kontextualisierung – sowie die unkonventionellen Darbietungen sorgen für viele Lacher. Doch stellt sich dahingehend die Frage, warum ausgerechnet Regieanweisungen hierfür herhalten müssen? Jeder andere Textausschnitt, der aus seinem Umfeld genommen wird, würde das gleiche Potenzial einer offenen Lesart entfalten. Im Grunde, so scheint es, dienen die Regieanweisungen nur als vordergründige Legitimation für eine Requisitenschlacht und einen Impro-Theaterabend, der das, was er verspricht, nicht so recht einzulösen vermag.
Bemächtigung der ZuschauerInnen
Statt des reduzierenden Charakters der Black Box, in der sie stattfindet, gerecht zu werden und im Gegensatz zur eigens auferlegten Schwierigkeit, vom Publikum nur wenige der Requisiten mit in den Spielbereich nehmen und damit nutzen zu dürfen, mangelt es der Performance nicht an Ausdrucksmitteln – dadurch aber umso mehr an Spannung! Wer nach Abzug aller Objekte immer noch eine Windmaschine oder ein Audiogerät zum Aufnehmen und Bearbeiten eigener Geräusche zur Verfügung hat, muss sich anderen Herausforderungen stellen. Dafür hält das Glücksrad noch vier besondere Felder bereit, die auf originelle Weise die ZuschauerInnen miteinzubeziehen versuchen. Während das Feld „Bücher“ einen Bücher- und damit einen Quellentausch einleitet (damit aber weniger für Variationen denn für Durchmischung sorgt), steht „Objekte“ für einen möglichen Austausch der zur Verfügung stehenden Mittel zur Improvisation (denn zu Beginn wurde nur ein Bruchteil des Requisitenmaterials vom Publikum ausgewählt). Wirkliche Abwechslung ergibt sich tatsächlich nur aus den übrigen beiden Feldern, „Regere“ und „Beenden“, welche die Verantwortung an die ZuschauerInnen abgeben und diese entweder zur Eigenregie oder aber zum vorzeitigen Abschließen/Verlassen des Abends bemächtigen.
Neue Lust am Schauen
Durch die Einbeziehung der ZuschauerInnen gewinnt die Performance tatsächlich nicht nur an Bedeutung, sondern auch und vor allem an Spannung. Bis zum auflösenden Schluss ist unklar, wer hier eigentlich die Fäden in der Hand hält, wer wen lenkt und was wirklich improvisiert und was gestellt ist. Das Ende verrät: Zumindest die Reihenfolge der Glücksradtreffer ist vorgegeben, was damit gemacht wird, ist den PerformerInnen, aber auch den ZuschauerInnen überlassen. Fast schon mutet die Aufführung als soziologisches Experiment an, ein spaßiges noch dazu: Dem Publikum wird nämlich Glauben gemacht, wirkliche Macht ausüben zu können. Es entwickelt sich auch eine besondere Lust am Schauen; darauf, was passiert, wenn Josefhine beispielsweise für die Aktion des „Zählens“ nicht etwa auf das Kartenspiel zurückgreifen darf, sondern das Kirschglas öffnen muss; oder darauf, wie Ulrike reagiert, wenn ihr eine Torte ins Gesicht geschleudert wird. Die Performance weckt Genuss am simplen Tun, am Ausführen, Beobachten und Aushalten. Schade nur, dass dieser durchaus infantilen Freude der nicht weniger erfreuliche Ernst theoretischer Erkenntnissuche und Reflexion dann doch ein wenig abhandengekommen ist.
Feeding Fears: Die Solidarität des Glücks
Ein einzelnes Licht strahlt auf die Bühne und wirft große Schatten zweier Performerinnen an die gegenüberliegende Wand. Die eine lehnt sich defensiv und beobachtend gegen einen Stapel Holzpaletten, während die andere am Rande der nur angedeuteten Bühne kniet und Körner auszusäen scheint. Mit einem zusammengebauten Konstrukt aus meterhoher Eisenstange und metallener Platte – gleichsam subtiles Symbol industriell-kapitalistischer Wertschöpfung – bewegt sich die zunächst observierende Performerin auf die sorgsam und liebevoll ausgestreute Saat zu, kehrt sie zusammen und zerstört sie. Dieser Prolog macht deutlich: Beide sind Teil eines größeren Systems, Akteurinnen in einem Machtverhältnis, das auf Besitz und Vorherrschaft basiert. Der einfache, aber vielsagende Titel des Stücks: Feeding Fears.
Die Angst des modernen Menschen
Das Performerinnen-Duo A Barrel of Monkeys setzt sich zusammen aus Sabeth Dannenberg und Clara Groeger – die eine Masterabsolventin im Bereich Physical Theatre der Folkwang-Universität, die andere nach mehreren abgebrochenen Studiengängen Bachelorabsolventin und freiberufliche Zirkusartistin. Wir ZuschauerInnen erfahren dies über einen Monolog der beiden, der sich an uns richtet, gleichzeitig aber auch an niemanden. Da wird aufgezählt, was sie vermeintlich ausmacht: Alter, Geschlecht, Größe, Gewicht, sexuelle Orientierung, Krankenversicherung, Rentenvorsorge. Konstruiert, aber auch gleich wieder infrage gestellt wird damit das Bild vom modernen Menschen. Foucault hätte seine Freude gehabt. Eines wird klar, und das nicht nur durch den Titel der Arbeit: Dieser moderne Mensch hat Angst. Wovor genau, wird in den selbst verfassten, kreativen, politisch interessanten und wunderbar fragmentierten Sätzen nicht genannt, aber gezeigt: Die beiden springen an Stangen hoch – teilweise vergeblich. Sie fallen herunter, kämpfen. Wie sie sich in die Arme fallen, hochheben, herumwerfen, ist gleichzeitig ein Mit- wie auch ein Gegeneinander. Das Potential zum Kampf ist allgegenwärtig. Das passt zum Text, aber auch zum ambitionierten, schwierigen Thema.
Ein empfindliches Gefüge
Die bereits im Titel angesprochene Angst resultiert aus dem Wissen um ein Gefüge, dessen Teil man ist und das letztlich aus dem Zusammenspiel von Privilegien zusammengehalten wird. Der ausgestellte Dualismus aus dem Prolog taucht an dieser Stelle des Stücks in abgeschwächter Form wieder auf. Während Clara sich dem Publikum zuwendet und Monologe über „Critical Whiteness“ und Heteronormativität hält, tanzt Sabeth parallel dazu im Hintergrund auf einer zusammengebauten, gefährlich instabil wirkenden Inselkonstruktion. Ihr sexualisierter Tanz versinnbildlicht Claras Aussagen, konterkariert sie aber gleichzeitig. Er ist außerdem Ausdruck eines Rückzugs ins Innere, der einer Konfrontation mit den ohnehin schier unlösbaren Problemen der Welt aus dem Weg geht.
Doch damit ändert sich nichts an den bestehenden Verhältnissen. Die Angst, mit der wir „gefüttert“ werden, resultiert scheinbar aus dem Wissen um dieses prekäre Gefüge, in dem das Glück einiger weniger auf dem Nachteil anderer beruht, die aus dem Raster der hegemonialen Norm herausfallen. Besonders interessant wird dieser Gedanke, wenn die beiden Performerinnen auf den Ursprung dieser Ungleichheit hinweisen und verdeutlichen, dass wir einem Imperativ zum Glücklichsein folgen, der letztlich nicht das Miteinander und die Begegnung beabsichtigt, sondern den gleichzeitigen, egoistischen Ausschluss anderer. Lässt sich Glücklichsein überhaupt mit Solidarität verbinden?
Von dem Versuch erneuter Begegnung
Leider verläuft sich dieser ambitionierte Gedanke zunehmend zugunsten einer allzu einfach scheinenden Lösung. Nicht nur durch die versuchte Einbindung des Publikums – durch vermeintlich ernst gemeinte Dankesworte, Fragen oder etwa die Bitte, Popcorn im Saal zu verteilen –, sondern auch durch die veränderte Ausführung einer bereits zu Beginn vorgestellten Choreografie wird zum Ende des Stückes an den Versuch erneuter Begegnung und den Wunsch, die Unwissenheit und Fehler anderer zu verzeihen, appelliert. Das mag nicht so ganz gelingen, nicht nur, weil die Zuschauereinbindung und Aufforderung allzu forciert wirkt und einer doch letztlich geschlossenen Form folgt, sondern auch weil diese Idee angesichts moderner Krisen und Schreckensmeldungen antiquiert und nichtssagend erscheint. Das durchweg in seiner Schlichtheit überzeugende Bühnenbild, das stets auch als Kampfmittel, als rettende Insel oder aber auch als Gegner im gemeinsamen Kampf diente, wird für ein Abschlussbild auf neue Weise zusammengefügt: Mit seinen drei auseinanderragenden Bändern weckt es Assoziationen an die geschmückten Bäume der Mittsommernachtsfeste. Clara und Sabeth lassen sich auf einen Vertrauenstest ein: Mit geschlossenen Augen klettern sie dieses Symbol der Einigkeit und des kollektiven Erschaffungswillens nach oben, um sich fallen zu lassen, die Beine und Arme mit dem jeweils anderen Körper verschränkt. Kurz vor dem Boden geht das Licht aus. Einen Aufprall hören wir nicht – sie haben sich halten können.
Informationen zum Theaterfestival west off 2015
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