Transzendentale Trauerarbeit

Paul Harding: Verlust // Quelle: Luchterhand

 

Charlie Crosby verliert seine Tochter und wird daran irre – aus diesem erzählerischen Kern lässt Paul Harding in Verlust ein ganzes Universum aus Trauer, Liebe und Menschlichkeit entstehen. Der Roman ist ein beeindruckendes Psychogramm, nicht nur eines verzweifelten Vaters, sondern auch einer  neuenglischen Kleinstadt.

 

von LINA BRÜNIG

Als Paul Harding 2010 für seinen Debütroman Tinkers den Pulitzer-Preis erhielt, war er der erste Preisträger seit 1981, der in einem unabhängigen Kleinverlag veröffentlichte. Und tatsächlich erwies sich dieser ausgezeichnete Roman über die letzten Tage des sterbenden George Crosby nicht als Buch für ein Massenpublikum. Ähnlich verhält es sich mit dessen Nachfolger Verlust. Hier widmet sich Harding nun einem Jahr aus dem Leben von Charlie Crosby, dem verträumten Enkel des Protagonisten aus Tinkers. Charlie hat durch einen Autounfall seine 13-jährige Tochter Kate verloren, seine Ehe mit der prosaischen Susan ging daraufhin in die Brüche. Er lebt seitdem allein im Haus der Familie. Der Leser erlebt nun einerseits die Abwärtsspirale in Charlies Alltag – wie er sich mutwillig die Hand bricht, um den Schmerz zu übertönen, wie er sich im Rausch der Schmerzmittel verliert, wie er durch die Wälder streift, statt zu arbeiten. Andererseits ist die Handlung zu gleichen Teilen von Erinnerungen durchbrochen: an seine Kindheit in der neuenglischen Provinz, an liebevolle Momente mit Kate, an seinen Großvater.

Aus der Zeit gefallen

Im englischen Original heißt der Roman Enon – nach der fiktiven Kleinstadt in Maine, in der die Handlung angesiedelt ist. Der Text ist also nicht nur das literarische Protokoll einer Trauerarbeit, sondern ebenso eine Hommage an das Leben in Neuengland. Charlie reflektiert in langen Passagen über heutige und frühere Bewohner, über historische Begebenheiten und über seine Verbundenheit mit der Natur. Assoziationen mit den amerikanischen Werken der Über-Transzendentalisten Ralph W. Emerson und Henry David Thoreau sind sicherlich kein Zufall. In einem Radiointerview erzählte Harding: „I’ve had the transcendentalist frame of mind since I can remember.“ Insofern überrascht es nicht, dass Verlust einen anachronistischen Touch hat und gleichzeitig eine kontemplative Zeitlosigkeit ausstrahlt – Enon ist eine Stadt mit langer und bewegter Historie und der Protagonist Charlie scheint keinen Unterschied zu machen zwischen Personen aus Vergangenheit und Gegenwart: Ein gedankliches Zusammentreffen mit Sarah Good, die 1692 in Salem als Hexe verbrannt wurde, ist für ihn genauso real, wie die herzzerreißend unbeholfene Unterhaltung mit dem indischen Kioskbetreiber Manny. Die Aufhebung der zeitlichen Grenzen ist dabei für Charlie letztlich eine Möglichkeit, den Tod seiner Tochter in einem größeren Zusammenhang zu sehen und so zu verarbeiten.

Polarisierungspotenzial

Mit Sicherheit wird so mancher Leser diesen Roman nach einigen Seiten entnervt zur Seite legen – der hohe Ton, die transzendentalen Naturbetrachtungen und die statische Erzählsituation sind nicht für jeden Kennzeichen eines besonderen Lesevergnügens. Für alle, die sich für die Geschichte Neuenglands interessieren und sich von einem assoziativen Strudel aus Erinnerungen und Gedanken erfassen lassen möchten, ist Hardings Roman allerdings wohl genau das Richtige.

Tatsächlich ist Verlust ein tiefgründiges, lebenskluges und uramerikanisches Buch – und Letzteres ist ausnahmsweise als Kompliment gemeint.

Paul Harding: Verlust
Luchterhand, 272 Seiten
Preis: 19,99 €
ISBN: 978-3-630-87377-0

 

 

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