Nach vorübergehender Musicalabstinenz unter dem nun scheidenden Opernintendanten Toshiyuki Kamioka steht mit West Side Story endlich wieder ein idealtypischer Vertreter des Musicalgenres auf der Bühne des Wuppertaler Opernhauses. Berühmt für die komplexe narrative Verflechtung von Tanz, Gesang und Schauspiel, fungiert das Stück seit fast 60 Jahren weltweit als Publikumsmagnet. Fast 60 Jahre? Zeit für eine Aktualisierung! – dachte sich wohl das Kreativteam der Wuppertaler Inszenierung rund um Regisseurin Katja Wolff, das zu einer Übertragung der Geschichte in die Gegenwart ansetzt.
von CHRISTOFER SCHMIDT
Eine imposante Großstadtkulisse, wie man sie aus der Verfilmung von 1961 oder anderen Inszenierungen der West Side Story kennt, gibt es in Wuppertal nicht. Hier spielt das Bühnenbild von Cary Gayler mit einer übersichtlichen und tristen Formstrenge aus Beton, die den Schauplatz für die Rassen- und Sozialkonflikte der rivalisierenden Jugendgangs, den „Jets“ und den „Sharks“, bereitstellt. Obwohl eine Straßenlaterne das öffentliche Geschehen hell erleuchtet, entzieht sich der jugendliche Alltag, der aus Rauchen, Saufen und Raufen besteht, den halbherzigen Interventionen der staatlichen Autorität. Erst ein Tanzabend durchbricht die Trostlosigkeit dieses Settings und hüllt die Welt für einen kurzen Moment in bunte Farben (Lichtdesign: Pia Virolainen). Just in diesem Augenblick begegnen sich Tony (Gero Wendorff) und Maria (Martina Lechner), die sich Hals über Kopf ineinander verlieben. Doch die puerto-ricanischen Sharks dulden nicht, dass die Schwester ihres Bandenanführers Bernardo (Vladimir Korneev) das ehemalige Jet-Mitglied Tony anschmachtet. Auch die amerikanischen Jets sind gegen diese Bindung und bringen ihre Verachtung mit ausländerfeindlichen Parolen, wie „scheiß Kanaken“, zum Ausdruck.
Verdorbene Jugend?
Das Vokabular in den gesprochenen Szenen ist derbe und porträtiert eine Generation, die wesentlich abgebrühter und radikaler daherkommt als die naiven Figuren des Originals. So überrascht es nicht, dass Maria und ihre Freundinnen im fröhlich beschwingten „I Feel Pretty“, statt durch ein Brautmodengeschäft zu tänzeln, betrunken und taumelnd auf der leeren Bühne umherrollen, oder dass sich der Beischlaf der Liebenden als unterkühlter, mechanischer Akt präsentiert. Die sexuelle Belästigung Anitas (Sarah Bowden) durch die Jets gerät sogar zur widerlich expliziten Vergewaltigungsszene.
Umso seltsamer mutet es an, als die verfeindeten Lager im zweiten Akt gemeinsam im Chor das Lied „Somewhere“ anstimmen. Zunächst verstreut, dann vereint in Reih und Glied und stets mit bedeutungsschwangerem Blick zum Publikum gerichtet: Sie singen von einem friedlichen Ort, an dem alles besser ist als in der Gegenwart. Ein unangenehm überwältigendes Pathos schwillt an und breitet sich im Zuschauerraum aus. Assoziationen an moralisierende Benefiz-Konzerte, die mit Kinderchor und Michael Jacksons „We are the World“ aufwarten, zwingen sich auf. Bewusster Kontrast oder ungelenker Spagat? Eher letzteres. Denn auch die anderen, musicaltypisch überbordenden Gesangsdarbietungen wollen nicht so recht zur Rohheit der Dialoge passen.
Aus Alt mach Neu
An Michael Jackson fühlt man sich auch erinnert, wenn sich einzelne Tänzer demonstrativ in den Schritt fassen. Die Choreografien stammen hierbei von Christopher Tölle, der die signifikante Bewegungssprache von Jerome Robbins durch eigene Abläufe mit moderneren Elementen zu aktualisieren versucht. So beginnt der getanzte Prolog des Stücks mit dem Auf- und Zuklappen eines Zippo-Feuerzeugs, was den erhöhten Nikotinkonsum der einzelnen Bandenmitglieder unterstreicht, gleichzeitig aber auch das ikonische Schnippen der Robbins-Choreografie überschreibt. Das ganze Auftreten der Jets erinnert an die Videoclipästhetik diverser Boybands, die, in Kapuzenpullis, Lederjacken und Baggy-Pants gekleidet (Kostüme: Heike Seidler), ihr Bad Boy-Image vermarkten wollen. Ein paar Flic Flacs hier, ein bisschen Breakdance dort – ernst nehmen kann man es nicht.
Robbins vermochte es seinerzeit, die soziokulturellen Prägungen der Figuren auf nuancierte Weise in den Choreografien zu differenzieren. Dabei hat er nicht nur auf ein jeweils spezifisches Bewegungsrepertoire der verfeindeten Gruppen geachtet, sondern zugleich auf kongeniale Weise deren Gemeinsamkeiten betont. In der Wuppertaler Inszenierung fällt diese subtile Charakterisierung etwas gröber aus, wobei interessanterweise die Sharks – obwohl ihnen weniger Zeit auf der Bühne eingeräumt wird – facettenreicher daherkommen als die Jets.
Höhen und Tiefen
Die Qualität der Darsteller variiert enorm: Absoluter Showrunner dieser Produktion ist Sarah Bowden in ihrer Rolle als Anita. Mühelos changiert sie zwischen komödiantischen Einlagen, temperamentvoller Leidenschaft und betroffen machender Zerbrechlichkeit. Mit ihren High-Kicks stellt sie so manche Ensemble-Tänzerin in den Schatten und gesanglich übertrifft die Australierin viele ihrer Kollegen – z. B. die eigentliche Hauptdarstellerin Martina Lechner. Zwar meistert diese ihre anspruchsvollen Partien als Maria problemlos, doch fehlt es ihrer Stimme an Strahlkraft. Zu technisch, ohne emotionale Höhepunkte singt sie sich durch das Stück. Auch ihr Versuch, den Akzent der Sharks zu imitieren, scheitert kläglich – nicht selten klingt sie eher niederländisch als puerto-ricanisch. Eine durchgängig gute Leistung liefert hingegen Gero Wendorff, der eine moderne und dynamische Version von Tony mimt. Mit samtweicher Stimme und schallerndem Vibrato erntet er tosenden Applaus für seine Interpretation von „Maria“. Die übrigen Darsteller, insbesondere die Jets und Officer Krupke (Claus Renzelmann), bleiben weit hinter den Leistungen der anderen zurück. Das ist mehr als schade bei einem Stück, das abseits der Hauptfiguren vor allem von einem starken Ensemble leben sollte. Ausgenommen sei an dieser Stelle noch Andrea Sanchez del Solar als Rosalia, da sie sich gesanglich und tänzerisch auffallend positiv aus der Menge hervorhebt.
Insgesamt verhält es sich bei dieser Aufführung wie mit den Feuerzeugen auf der Bühne: Mal zündet es, mal zündet es nicht – und wenn der Funke überspringt, dauert der Spaß nicht unbedingt länger als eine Zigarettenlänge. Bildeten bei Robbins, Bernstein und Sondheim die einzelnen Elemente noch eine symbiotische Verbindung, vermisst man diese in Wuppertal schmerzlich. Die Sprechszenen gehen nicht nahtlos in die Nummern über und der größtenteils klassisch dargebotene Gesang steht im Kontrast zum choreografischen und inszenatorischen Aktualisierungsansatz. Der Abend oszilliert zu häufig zwischen zwei Extremen: brutal und schmalzig. Dennoch lohnt sich ein Besuch: Das Orchester unter der Leitung von Christoph Wohlleben spielt die schwierige Partitur Bernsteins grandios, die jungen Darsteller versprühen Charme und transportieren sehr eindringlich die Botschaft des Stücks. Sie führen uns die destruktiven Folgen von Fremdenhass, Gewalt und Vorurteilen vor Augen, denn knapp 60 Jahre nach Entstehung des Stücks hat West Side Story nichts von seiner Brisanz eingebüßt.
Informationen zur Inszenierung
Nächste Vorstellungen:
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