Ein Haustier der besonderen Art

COVER_Macdonald_H wie HabichtEin Jahr nach der Erstveröffentlichung liegt dem deutschsprachigen Lesepublikum nun die Übersetzung von Helen Macdonalds H is for Hawk H wie Habicht vor. Schon während der Lektüre wird klar: Hier handelt es sich um ein wundervolles, autobiographisch inspiriertes Buch, das Genregrenzen sprengt und anrührenden Tiefgang mit vogelfreier Leichtigkeit kombiniert.

von HELGE KREISKÖTHER

Für Leseratten landauf, landab heißt es zu Recht: Never judge a book by it’s cover. H wie Habicht macht einem diesbezüglich jedoch einen Strich durch die Rechnung – blickt einem auf dem Titelblatt der deutschen Fassung doch ein markant gezeichneter Vertreter jener eindrucksvollen Greifvogelart direkt in die Augen. Können die gut 400 Seiten, die Ulrike Kretschmer aus dem Englischen übersetzt hat, aber diese hochgesteckten Erwartungen erfüllen? – Sie übertreffen, ja überflügeln sie. So geringfügig die äußere Handlung von H wie Habicht erscheint, so essentiell ist sie für all die herrlich gemeingültigen, poetischen Passagen, die Macdonald kreiert.
Nach dem Tod ihres innig geliebten Vaters ist Helen buchstäblich am Boden zerstört. Gewöhnliche Hobbys oder Freunde sind Fehlanzeige – die Leidenschaft für Greifvögel ist alles, was sie seit Kindesjahren begleitet. Schließlich erwirbt sie eines Tages ein Habichtweibchen, tauft es Mabel (abgeleitet vom lateinischen „amabilis“ für „liebenswert“) und beginnt, ihren Tagesablauf an diesem Tier auszurichten.

Wie man Flügel verleiht

Laut eigener Aussage ist Macdonalds Buch keinesfalls von der Sorte „Mir ging’s schlecht, aber dann besorgte ich mir eine Katze“. Anders als der Titel suggerieren mag, wird hier also nicht ein Tier zum Gegenstand romantisierender Reflexionen über das vermenschlichte Dasein. Ebenso wenig geht es – erfreulicherweise – um eine MobyDick-artige Aufarbeitung selbst- oder fremdverschuldeter Traumata. Vielmehr entsteht eine wechselwirkende Beziehung zwischen Mabel, dem titelgebenden Habichtweibchen, und seiner Falknerin, sprich Helen Macdonald selbst, die in ihrer literarischen Ausgestaltung wohl noch am ehesten mit Thomas Manns Erzählung Herr und Hund aus dem Jahr 1918 vergleichbar wäre. Jede Augenbewegung, jede Pulsveränderung, jeder Krallengriff des hochsensiblen Tiers wird wahr- und ernstgenommen. Indes erwirbt die Falknerin mit der Zeit – d.h. nach vielen brutalen Rückschlägen – das Vertrauen des Vogels, wird zu seiner Bezugsperson und Jagdgefährtin. Macdonald schafft es dabei, das Abrutschen in sentimentale Floskeln ebenso zu vermeiden wie spröde ornithologische Belehrungen. So erfährt man eine Menge über Greifvögel, den speziellen Charakter von Habichten und die Geschichte der Falknerei, ohne den romanesken Plot aus den Augen zu verlieren. Macdonalds Stil trägt dem Buch fünf von fünf Sterne in puncto Erzählvermögen ein und distanziert sich kunstvoll von den eingangs erwähnten Klischees. Ihren (d.h. Helens) eigenwilligen Charakter beschreibt sie z. B. mit einer unterschwelligen Melancholie: „Als ich sechs war, versuchte ich, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen – wie Flügel – zu schlafen.“ Ebenso jedoch mit besessener Alternativlosigkeit: „Der Habicht war all das, was ich sein wollte: ein Einzelgänger, selbstbeherrscht, frei von Trauer und taub gegenüber den Verletzungen des Lebens.“ Besonders grandios geraten ihr die Passagen über Mabel selbst: „Sie durchstößt Zweige, um zu meiner Faust zurückzukehren, wenn ich pfeife; sie folgt mir auf Schritt und Tritt und fliegt über mir wie mein Schutzengel […]. Oder sie lässt sich über mir und den Bäumen treiben, ist nur hin und wieder flackernd sichtbar und zieht Luftkräusel wie kleine Wirbel hinter sich her.“ Die notwendige Prise Humor büßt die Erzählerin bei alledem keineswegs ein (etwa in der Schilderung, wie unbeholfen sich die kleine Mabel neben den majestätischen, fremden Adlern auf einer Greifvogelschau präsentiert).

Zwischen Bildungs-, Entwicklungs- und Unterhaltungsroman

Trotz der Einmaligkeit seines Sujets – wann erlebt man jenseits von Kinder- und Fantasyliteratur schon geflügelte Protagonisten? – gelingt es Macdonald, gelegentliche Intertextualität aufzubauen, z. B. zu Alice im Wunderland, Medea, Peter Pan oder John le Carré (diese nennt sie auch alle beim Namen). Immer wieder wegweisend wird für sie außerdem das Leben und Werk Terence Hanbury Whites, der ebenfalls einen Habicht besaß. Helen distanziert sich jedoch schrittweise von ihm und seinen offenkundig gescheiterten Abrichtungsmethoden.
Handelt es sich nun aber um ein Sachbuch oder um Belletristik? Am ehesten lässt sich H wie Habicht wohl dem Genre des Bildungsromans zuordnen, aber ach! – wären doch alle deklarierten Bildungsromane so einfühlsam und glaubwürdig. Dass Zielstrebigkeit und die Leidenschaft für ein seltenes Hobby dem Leben eine Richtung verleihen und die Freundschaft zu einem Tier nicht der einzige, aber ein wesentlicher Lebensinhalt sein können, lehrt uns H wie Habicht ohne vergleichbare Konkurrenz auf dem gegenwärtigen Literaturmarkt. Obendrein ökokritische Elemente mit actiongeladenen Jagdszenen in ein und demselben Werk zu vereinen, verdient ein „Chapeau!“.

Helen Macdonald: H wie Habicht
Allegria Verlag, 416 Seiten
Preis: 20,00€
ISBN: 978-3-793-42298-3

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