Kaum zu glauben, aber nach 88 Jahren erschien im Februar 2014 bei Reclam (fast unbemerkt) eine längst überfällige Neuübersetzung von Jaroslav Hašeks Roman Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg. Erstmals erhält das deutsche Publikum die Möglichkeit, dieses Werk unzensiert und originalgetreu zu lesen. Kein leichtes Unterfangen, denn das Buch ist zäh, weitschweifig und geschwätzig bis zur Unerträglichkeit – aber ungemein lustig zugleich.
von JONAS PODLECKI
Ein Idiot, so schreibt Slavoj Žižek in Weniger als Nichts, ist jemand, der den Kontext einer Situation nicht begreift. Als literarisches Beispiel für seine These zitiert er Jaroslav Hašek. Der Soldat Josef Švejk sieht, wie andere Soldaten aus dem Schützengraben ihre Feinde beschießen. Daraufhin rennt er zwischen die Fronten, mit den Worten: „Hört auf zu schießen, da sind Menschen auf der anderen Seite!“ In der kongenialen Übertragung von Antonín Brousek fehlt diese Szene zwar*, sie lässt aber erahnen, womit es der Leser zu tun bekommt: mit einem jede Absurdität entlarvenden Schelm, aber durchaus mit keinem völligen Idioten im Žižekschen Sinne.
Denn bis zuletzt bleibt unklar, ob Švejk nur so tut, als ob, oder tatsächlich naiv ist wie ein Kind, dessen unschuldiger Blick militärische Autoritäten entwaffnet. Manche glauben ihm, andere wünschen ihn zum Teufel, das heißt, sie schicken ihn, trotz attestierter Schwachsinnigkeit, zum Militär und schließlich an die Front. Auf dem Weg dorthin gerät Švejk mehrfach in Polizeigewahrsam, vor ein Untersuchungsgericht, in die Klapsmühle, als Simulant ins Krankenhaus und in Garnisonsarrest. Er wird hin und her geschoben, bis er als Offiziersdiener zunächst beim Feldkuraten Katz landet und schließlich weitergereicht wird als Ordonnanz für Oberleutnant Lukáš; dabei taumelt Švejk von einem Fettnäpfchen ins nächste. Hat man es nun mit wohlkalkulierter Einfältigkeit oder mit einfacher Stupidität zu tun? Während er einerseits Oberleutnant Lukáš einen von einem Oberst gestohlenen Hund schenkt, Lukáš jedoch erwischt und zur Strafe an die Front geschickt wird, rettet Švejk andererseits einen Kameraden vor dem Tod: Da Mikulašek ordnungswidrig (auf dem Tisch sitzend) salutiert, will Oberleutnant Lukáš diesen erschießen; eben weil Švejk die Gefahr dieser Situation erkennt, kann er die Spannung lösen, indem er Oberleutnant Lukáš derart zuschwafelt, dass dieser von seiner beabsichtigten Tat absieht und Mikulašek wegschickt.
Anekdotische Exzesse
Das Anekdotische ist das Besondere, Innovative und Schwerfällige an Hašeks Werk. Die Anekdote ist eine mündliche Erzählung aus der unmittelbaren Erfahrung, sie handelt von realen Personen, denen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort etwas widerfahren ist, worüber grotesk verzerrt berichtet wird; die Anekdote muss einen kontextuellen Bezug zur gegenwärtigen Gesprächssituation besitzen und darf nicht aus dem Nichts gegriffen sein. Jede Figur, gleich welchen Ranges oder welcher Herkunft, schwadroniert in diesem Roman, was das Zeug hält; und Švejk ist der absolute Meister des unangemessenen Geschwafels. Seine Anekdoten beziehen sich nur selten auf die Situation, aus der heraus sie erzählt werden. Das ermüdet, erbost und strapaziert nicht nur die Romanfiguren, sondern auch den Leser, der sich zuweilen unerträglich langweilt über diesem seitenlangen Sermon. Zum Beispiel beginnt Švejk über Feldpostbriefe zu berichten, endet aber mit einer Anekdote über die Ehrlichkeit von Frauen auf dem Land; eine Angebetete entgegnete ihm: „Ich hab dich ungefähr so gern wie einen Strohhalm im Arsch, du bist ja so blöd.“
Was den Roman daher rettet, ist sein unverwechselbarer Humor. Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges vereint Jaroslav Hašek Satire, Groteske und Schelmenstück in Literatur, die staatliche, bürokratische und militaristische Willkür der Lächerlichkeit preisgibt. Die Sprache ist obszön, vulgär, fäkal und exzessiv, wie man es von Rabelais’ Gargantua und Pantagruel kennt. Es wird geflucht, gekackt, gekloppt, gefressen (und gehungert). Respekt und Ehre zeigen weder einfache Fußsoldaten noch Offiziere oder Generäle. Helden sucht man vergebens, Egoisten dagegen begegnen dem Leser in jedem Kapitel. Und immer wieder Bauernschläue, als wäre ein Buddha in tschechischen Arbeitervierteln aufgewachsen: „Die Kothaufen der Soldaten aller Völker und Konfessionen lagen nebeneinander oder übereinander, ohne miteinander zu streiten.“ – „Das menschliche Leben ist, melde gehorsamst, Herr Oberleutnant, so kompliziert, dass das Leben des einzelnen dagegen ein Witz ist.“ – „Wenn jeder gescheit wäre, dann gäbe es so viel Gescheitheit auf der Welt, dass davon jeder zweite verblöden würde.“ Nicht umsonst sehen viele in Švejk einen „weisen Narren“.
Tragigroteske als Weltliteratur
Hašek hat den Roman erneuert, indem er die Wirtshaus-Anekdote literaturfähig gemacht hat, und er modernisierte die tschechische Literatur dadurch, dass er das bis dato schriftstellerisch ungebräuchliche Umgangstschechisch in die Prosa einführte. Er führte die Tradition des Schelmenromans fort, um sie, auf die Moderne adaptiert, motivisch zu verändern. Švejk hat beispielsweise keinen Diener, der ihm hilfreich zur Seite steht (wie Sancho Panza dem Don Quijote), im Gegenteil: Wenn ihn jemand begleitet, gerät er in noch größere Schwierigkeiten. Švejk ist ein einsamer, entfremdeter Antiheld, ein pikaresker Odysseus, der daheim bleiben möchte, aber zwischen die Walzen von Bürokratismus, Militarismus und politischer Willkür gerät und fortgespült wird von weltkriegerischen Zeiten – wie sein Verfasser. Der Humor dient Hašek nicht allein, Absurditäten zu entlarven; er ist existenzieller Art: ein Schrei, verkleidet als Lachen im Angesicht des Schreckens. Man könnte sagen, der Roman sei eine Tragigroteske.
Dem Übersetzer Antonín Brousek haben wir es zu verdanken, dass der Roman endlich in einer angemessenen deutschen Übertragung vorliegt. Grete Reiner, die Erstübersetzerin, erfand eine Kunstsprache, das „Böhmakeln“, die zwar auf kreative Weise das Deutsch von Tschechen auf die Schippe nahm, dem Original aber in keinster Weise gerecht wurde und heute mehr als veraltet wirkt. Nun kann man den Švejk genießen (oder entnervt beiseitelegen), wie es die Tschechen tun: als eines der lustigsten, humorvollsten und ironischsten Werke der Weltliteratur. Oder wie Kurt Tucholsky schrieb: „Zu diesem Buch ist mir in der gesamten Literatur kein Gegenstück bekannt.“
* Nach Hašeks Tod (im Januar 1923) schloss der Publizist Karel Vaněk den vierten Teil des auf sechs Bände angelegten Werkes ab und fügte diese Szene hinzu. Die Reclam-Ausgabe beschließt den Roman so, wie Hašek ihn hinterlassen hat: im dritten Kapitel des vierten Teils.
Sehenswert: Jaroslav Rudiš und Antonín Brousek über den Švejk
Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg
Reclam Verlag, 1008 Seiten
Preis: 29,95€
ISBN: 978-3150109694