Gibt es eine „poetische Wahrheit“? Oder ist diese Wendung, weil sie zwei einander widersprechende Begriffe zusammenführt, ein uneinlösbares Oxymoron? Falls jedoch eine poetische Wahrheit existiert: Was bedeutet sie? Wie erscheint sie? Woran erkennt man sie? Vielleicht gibt es keine zufriedenstellende Antwort, doch der Anspruch, den diese Fragen erheben, wurde von Isaak Babel in seinem Werk Die Reiterarmee in dreißig Erzählungen auf einzigartige Weise erfüllt.
Von JONAS PODLECKI
Schönheit gegen Brutalität, Natur gegen alles zermalmende Feldzüge, Religion gegen unbezähmbare, tiermenschliche Wildheit – Babel übergeht diese Gegensätze, ohne sie zu hintergehen, indem er sie in seinen Geschichten kontrastiv verwebt, um den Zerstörungen des Krieges in bildstarker Klarheit Ausdruck zu verleihen. „[…] und aus seinem Hals ergoß sich ein schaumiger korallroter Bach.“ – „Der Herbst hielt unsere Herzen aus einem Hinterhalt umzingelt, und Bäume, nackte Leichname, auf beide Füße gestellt, wiegten sich an den Kreuzungen.“ – „Die orangerote Sonne rollte über den Himmel, wie ein abgehackter Kopf.“ – „Die Kugeln wimmern und winseln. Ihr Klagegeschrei wächst ins Unerträgliche. Die Kugeln treffen die Erde und wühlen sich, vor Ungeduld zitternd, in sie hinein.“ Im Grunde erinnern Babels Geschichten an eine literarische Entsprechung zu Picassos kubistischem Meisterwerk Guernica. So bildgewaltig und ausdrucksversessen seine Prosa wirkt: Sie ist eher dem französischen 19. Jahrhundert und der jüdischen Mystik verbunden als der „expressionistischen Suada“, von der Walter Jens sprach, als er diese Erzählungen beschrieb. Denn sie suchen nicht zu typisieren, sondern (das Gesehene) poetisch zu verdichten: „Wunden seiner Heimat“, „Wein seiner Gespräche“, „verblichene Leinwand des Schweigens“, „den letzten Seufzer meines Bruders.“ Man könnte so weiter aufzählen und träfe doch nicht den Kern des motivisch komplex verwobenen Spektrums, das Babel hier aufbietet. Wenn er zum Beispiel eine schwangere Frau beschreibt [Geburt], die einen Gast (einen Soldaten im Krieg) bewirtet [Verhältnis „Gast“ – „Gastgeber“], zeigt er nicht bloß die Verwüstung des Hauses [Zerstörung durch Krieg], sondern zugleich die Tragik einer Tochter [Familie], die ihren toten Vater nicht begraben kann [Tod], der daher zugedeckt im Bett liegt – neben dem Soldaten, der dachte, der Mann schlafe nur (aus Platzmangel) neben ihm [Pointe]. Ohne es explizit auszudrücken, sieht man einerseits die Sorgen einer Mutter über einem zerstörten Leben, andererseits werden bereits in dieser ersten Erzählung Sujets eingeführt, die sich leitmotivisch durch den gesamten Band ziehen.
Überdeutlich werden die zerstörerischen Auswirkungen des Krieges an den Juden gezeigt, die vielleicht das größte Opfer des Geschehens waren und gegen die brutal vorgegangen wurde, sowohl vonseiten der sowjetischen Reiterarmee (insbesondere der Kosaken), als auch vonseiten des polnischen Militärs. Im Tagebuch 1920 notiert Babel: „Der Pogrom von Žitomir, von den Polen veranstaltet, danach, natürlich, von den Kosaken.“ Vielleicht ist Babels exzentrische Poetisierung der Prosa gerade dem Chassidismus geschuldet, der keine unbedeutende Rolle spielt in diesem Werk, das in besonderem Maße auch vom Leben und Leiden der Ost-Juden in Galizien und Wolhynien handelt. Als erstrebtes Ziel notiert Babel in Entwürfen und Skizzen (in Anlehnung an Baudelaire): „Poèmes en prose“ (Gedichte in Prosa). Nicht umsonst zitiert Paul Celan Isaak Babel in seinen Gedichten, war er doch sehr beeindruckt von dessen poetischen Erzählungen.
Gleichwohl scheint neben allem Symbolismus und neben aller poetischen Verdichtung die Konvention durch: sozialistischer Kitsch, sowjetisches Heldentum und kommunistisches Gedankengut – allerdings in Maßen. Eine Veröffentlichung wäre ansonsten seinerzeit nicht möglich gewesen. Dennoch gelingt es Babel, dem Sozialistischen Realismus durch naturalistische Überspitzung höchste literarische Qualität abzutrotzen. Denn fast jede Figur erhält ihre individuelle Stimme. Wenn sie ungrammatisch spricht, wird dies übernommen; werden in einem Schriftstück Buchstaben verschluckt, erfolgt dies auch im Schriftbild der Erzählung. So kann man, wie bei Dostojewski, durchaus von literarischen Charakteren sprechen (und nicht bloß von vereinheitlichten, flachen Figuren-Typen).
Gerettete Sprache, verstümmeltes Werk
Die Reiterarmee blickt auf eine entstellende Editionsgeschichte zurück. Beispielsweise mussten die Namen realer Kriegsteilnehmer geändert werden in sprechende Namen: unter anderem Kurdjukov (kosak. Kurdjuk = Hintern, Arsch), Česnokov (russ. česnok = Knoblauch), Tarakanyč (russ. für Küchenschabe; Verb = ficken). Hier konnte Babel die Sprache retten und eine literarische Lösung finden, die dem Werk guttat. In anderen Fällen hat die (Selbst)Zensur ganze Passagen getilgt, die in der (aktuellsten) deutschen Übersetzung glücklicherweise im Anhang angeführt wurde. Überhaupt ist der Arbeit des Übersetzers Peter Urban viel zu verdanken, hat er doch möglichst nah am Original übertragen und den Ton Babels, die Rhythmik der Sprache kongenial ins Deutsche über(ge)setzt. Beispiele: „Und vor dem Fenster steht die Nacht, wie eine schwarze Säule.“ Oder: „Nimm, Seele, bitte, iß, empfang vom Leben dein Vergnügen.“ Und: „Die Augen hängen ihm an Tränen aus der Fresse.“ Den für die russische Poesie charakteristischen Jambus überträgt er gekonnt in deutsche Jamben, ohne auf die Bildkraft zu verzichten. Daneben hat Urban vieles in Anmerkungen erläutert, um das Verständnis des Textes zu erleichtern und die Besonderheiten der Erzählungen und die Leistung Babels insgesamt hervorzuheben.
Vielleicht haben wir dieses Buch Maxim Gorki zu verdanken, dem ersten Förderer Babels. Gorki hat Babel angeblich geraten, sich zunächst im Leben umzuschauen, bevor er sich ans Schreiben macht. Prompt trat Babel der Roten Armee bei und nahm teil am polnisch-sowjetischen Krieg 1920. Ohne Die Reiterarmee hätte dieser Krieg vielleicht nie Eingang gefunden in die Weltliteratur. Eine der selten auftretenden, aber wichtigen Hauptfiguren des Bandes (später „Kriegsheld“ der UdSSR), Kosakengeneral Semën Michajlovič Budënnyj, war außer sich vor Wut bei Erscheinen der ersten Erzählungen in sowjetischen Literaturzeitschriften und bezichtigte Babel der Lüge. Erst seit der Veröffentlichung von Babels Tagebuch 1920 weiß man, wie viel eigentlich der (unpoetischen) Wahrheit entspricht und wie bestialisch (neben der polnischen Soldateska) die Kosaken der 1. Roten Reiterarmee gewütet haben auf ihrem Marsch nach Polen und auf ihrem chaotischen Rückzug.
Man kann dieses Werk nicht oft genug empfehlen. Es zählt zweifelsfrei zu den größten Errungenschaften russischer Erzählkunst des 20. Jahrhunderts, und vielleicht sind es gerade diese Erzählungen, die die Existenz einer „poetischen Wahrheit“ in der Prosa bezeugen.
Sehenswert: Literarisches Quartett zu Isaak Babels Die Reiterarmee (1:57 bis 24:12)
Isaak Babel: Die Reiterarmee
Friedenauer Presse, 320 Seiten
Preis: 18.50 €
ISBN: 978-3921592847
Isaak Babel: Tagebuch 1920
Friedenauer Presse, 272 Seiten
Preis: 18,50€
ISBN: 978-3921592595