Mit seinem aktuellen Buch Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror plädiert der slowenische Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek für eine globale Solidarität mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten. Der Klassenkampf ist noch nicht vorbei, sondern geht in eine neue, weltumfassende Runde. Žižek errichtet eine neue Utopie, die interessante Erkenntnisse zeitigt, aber letztlich zum Scheitern verurteilt ist – auch aufgrund der verwendeten Rhetorik.
von JONAS PODLECKI
„Christ, I miss the cold war“, verkündet M im Film Casino Royale. Sie meint damit die relative Überschaubarkeit des Konflikts, der damals zwischen dem (guten) Westen und dem (bösen) Ostblock herrschte: Es gab „nur“ zwei Seiten, Regierungen mischten sich nicht in die Arbeitsweise der Geheimdienste ein und Agenten, die Fehler begangen hatten, liefen zum Feind über. Heute erscheinen solche Auseinandersetzungen komplexer und komplizierter (siehe Syrienkrieg). Ein klarer „Bösewicht“ ist nicht auszumachen, da alle Seiten – mittlerweile gibt es weit mehr als zwei Interessenparteien – gegeneinander hetzen, sich kurzfristig verbünden (gegen einen gemeinsamen Feind), um dann, voneinander entbunden, wieder gegeneinander zu wettern. Diese Situation macht sich Slavoj Žižek zunutze, um das Schlagwort „Klassenkampf“ neu zu definieren und für aktuelle Ereignisse fruchtbar zu machen.
Während die politische Linke Žižek als Abtrünnigen betrachtet, weil er ihre Werte untergräbt, wird er von konservativen Kräften gerne als spekulativer Scharlatan ignoriert. Žižek ist ein doppelt Ausgestoßener: zu flexibel für beide Seiten, um sich auf eine Sicht festzulegen, und zu sprunghaft, um ein dahintersteckendes „System“ erkennen zu lassen. Er bedient sich allem und jedem (z. B. Stalin, Lenin und der „pasta putinesca“), um Sachverhalte verständlich zu machen und – nicht ohne (selbst)ironische Distanz – auf seine Position zu verweisen. Žižek ist ein Doppelagent: Mit konservativen Argumenten geht er gegen linke Illusionen vor, mit linker Ideologiekritik kämpft er gegen den (rechten) angelsächsischen Neoliberalismus, der die Welt im Zuge der Globalisierung erst in diese Krise stürzte. Für einen wiedererwachten Klassenkampf, bei dem die Flüchtlinge eine wesentliche Rolle spielen, zieht er gegen einen global agierenden Kapitalismus ins Feld. Seinen Schlachtruf kann man sich so vorstellen: „Proletarier aller Weltregionen, vereinigt euch!“
Kritik von außen und von innen
Zugute halten muss man Žižek, dass er seine Kapitalismuskritik klar und einleuchtend äußert. Zwar sind die Informationen und Argumente, die er dem Leser bietet, nicht alle neu, doch bettet er sie in einen größeren Kontext, der die Verantwortlichkeit des Westens deutlich aufzeigt. Dazu zählt beispielsweise die Ausweitung der Nahrungsmittelindustrie auf afrikanische Länder, was den Einheimischen ihre Lebensgrundlage entzog und sie zur Flucht drängte. Oder die Kooperation westlicher Unternehmen mit Warlords im Kongo, um an seltene Rohstoffe zu gelangen. Žižek konstatiert: Der ökonomische Neokolonialismus führt zu einer neuen Form von Apartheid, die für die aktuellen Flüchtlingsströme mitschuldig ist. Doch belässt er es nicht bei einer reinen Kritik am „Westen“, ebenso demontiert er die Staaten des Nahen Ostens, indem er ihre Handlungslosigkeit attackiert (die arabischen Golfstaaten nehmen keine Flüchtlinge auf) und sie zudem als Profiteure des globalen Kapitalismus entlarvt (obwohl die islamistische Seite sich gerne als Feind des Westens inszeniert).
„Der liberale Westen ist deshalb so unerträglich, weil er Ausbeutung und Gewaltherrschaft nicht nur praktiziert, sondern diese brutale Realität wie zum Hohn als ihr genaues Gegenteil verkleidet, nämlich als Freiheit, Gleichheit und Demokratie.“ Während die Europäer also denken, sie (und das demokratische System) seien die Retter der Flüchtlinge, glauben (afrikanische) Flüchtlinge daran, dass die Demokratie ihre Länder ausbeute. Von den Werten, die ihre vermeintlichen Retter verkörpern, sind daher nicht alle Ankommenden überzeugt, ganz zu schweigen von den Menschen, die in den neokolonisierten Ländern weiterhin leben (müssen). Demokratische Offenheit sei zudem ein Grund für das Erstarken der Rechten, die aktuelle Krisen ausnutzen und Stimmung machen gegen ihre politischen Widersacher. „Dinge, die bislang auf die obskure Unterwelt rassistischer Obszönitäten beschränkt waren, erobern sich langsam einen Platz im öffentlichen Diskurs.“ Als Beispiel nennt Žižek den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, der die Idee des Holocaust nicht den Nationalsozialisten, sondern einem palästinensischen Großmufti (al-Husseini) zuschieben wollte. In Deutschland ließe sich dafür die rassistische Argumentationsweise der AfD anführen.
Was tun?
Für Žižek ist der „neue“ Klassenkampf nicht allein der Orientierungspunkt aller politischen Auseinandersetzungen, sondern das „strukturierende Prinzip“ (Louis Althusser), das ideologische Differenzen zusammenführen kann – wenn man es denn richtig tut. Das heißt: „Die eigentliche Aufgabe besteht vielmehr darin, dass wir Brücken zwischen ,unserer‘ und ,deren‘ Arbeiterklasse bauen – dass wir sie, die Flüchtlinge, an einem solidarischen Kampf beteiligen. Denn ohne diese Einheit (welche Kritik und Selbstkritik auf beiden Seiten einschließt) fällt der Klassenkampf in einen regelrechten Kampf der Kulturen zurück.“ Es reiche daher nicht, die Flüchtlinge „nur“ zu respektieren, man müsse ihnen eine gemeinsame Aufgabe bieten, „da unsere Probleme heute gemeinsame Probleme sind!“ Žižek instrumentalisiert die aktuelle Lage der Flüchtlinge für seine Zwecke, er kreiert eine solidarische Utopie, die das explosive Potenzial ihres Anspruchs verkennt. Als Mahatma Gandhi Muslime und Hindus zusammenführte, um gemeinsam friedlich gegen die britischen Kolonisten zu protestieren, entbrannte nach dem Sieg ein Konflikt, der die brutale Spaltung Indiens bewirkte und zu Gandhis Ermordung führte. Ähnliches geschah beim „Arabischen Frühling“ in Ägypten: Gemeinsam mit den Liberalen bezwang die radikal-islamische Muslimbruderschaft den damaligen Diktator Husni Mubarak. Im Parlament allerdings (in einer Koalition mit den Liberalen, gegen die sie dann vorging) blockierte sie alle liberalen Bestrebungen (für die zu einem großen Teil auch die Menschen auf der Straße eintraten) und wollte ein unterdrückerisches, islamistisches Regime errichten. Ein Militärputsch hat dies verhindert. In beiden Fällen (Indien, Ägypten) starben viele Menschen. Als bekennender Pessimist sollte Slavoj Žižek diese historischen Tatsachen bedenken. Nicht, dass alle Flüchtlinge potenzielle radikale Dschihadisten sind, die unsere Demokratie bedrohen (wie immer wieder verlautbart wird), sondern dass aus einer vorübergehenden Koalition eine spätere blutige Fehde werden kann.
Doch Žižek gibt auch konkretere Hinweise, wie man mit der aktuellen Situation umgehen sollte: Einsatz des Militärs zur Organisation des Flüchtlingsstroms, obligatorische Richtlinien, an die man sich halten muss (als gäbe es keine Gesetze dafür), und die Toleranz unterschiedlicher Lebensweisen innerhalb dieser Richtlinien. All dies ist machbar, geht allerdings zu weit, wenn er die Militarisierung der Gesellschaft fordert, um den sich selbst regulierenden Kapitalismus zu entmachten. Überhaupt trifft man immer wieder auf dystopisch-totalitäre Rhetorik: „[…] wenn wir als Weltmacht überleben wollen“, „[…] der langsame Zerfall, die schleichende Transformation Europas […]“. Dass der globale Kapitalismus schmutzige Finger hat, macht Žižek deutlich, doch häufig genug schießt er rhetorisch über das Ziel hinaus und schadet damit eher sich und seiner Argumentation als dem Neoliberalismus.
Žižek klärt auf und stolpert über seine Wortwahl, er beschwert sich über abstrakte Politik, nutzt aber kaum erläuterte marxistische Begriffe (wie „Überdetermination“, „Äquivalenzketten“ oder das „konkrete Allgemeine“), er landet argumentative Schläge, die ihn selbst zu Fall bringen. Žižek wütet und wettert mithilfe der Psychoanalyse gegen alle politischen Lager (Linke, Liberale, Konservative, Zionisten und Antizionisten), er scheut keine Konfrontation und steht, trotz intellektueller Kollateralschäden, im Grunde für etwas Gutes ein. Eine interessante Lektüre, aber kein Frieden stiftender Appell, weder an die Leserschaft noch an die Flüchtlinge.
Slavoj Žižek: Der neue Klassenkampf: Die wahren Gründe für Flucht und Terror (Deutsch von Regina Schneider)
Ullstein: 96 Seiten
Preis: 8 Euro
ISBN: 978-3-550-08144-6
Das klingt wieder einmal sehr nach Zizek, der sich ja leider inzwischen sehr in der Rolle des kapitalismuskritischen Pausenclowns und Klassen(kampf)kaspers gefällt … Sein assoziatives, schrotflintenhaftes Argumentieren hat den Nachteil, dass immer wieder viele Körnchen am Ziel vorbeischießen …