Toshiyuki Kamioka (musikalische Leitung) und Ansgar Haag (Regie) bringen Tschaikowskis Oper Eugen Onegin auf die Wuppertaler Bühnen. Im Zentrum stehen Langeweile am Leben, die Tragik großer Leidenschaften zur Unzeit und die Reue über vertane Chancen. Während der Abend musikalisch und darstellerisch überzeugt, hätte man der Inszenierung etwas mehr Mut zum Risiko gewünscht.
von ANTONIA RUMPF
Der Plot von Eugen Onegin ist so bekannt wie schnell erzählt: Die junge Landadlige Tatjana verliebt sich auf den ersten Blick unsterblich in ihren neuen Nachbarn, den Dandy Onegin, der davon allerdings völlig unbeeindruckt bleibt und sie zurückweist. An sein stets gelangweiltes Wesen dringt ihr Liebesgeständnis genau so wenig wie die Eifersucht, die er in seinem einzigen Freund Lenskij schürt, indem er mit dessen Verlobter – Tatjanas Schwester Olga – tanzt und kokettiert. Erst nachdem diese Eifersucht dazu geführt hat, dass Onegin seinen Freund im von Lenskij geforderten Duell getötet hat, zieht er sich ins Ausland zurück, findet aber nirgends Erfüllung und kommt schließlich Jahre später nach St. Petersburg, wo er Tatjana wiedertrifft und sich schlagartig seiner Liebe zu ihr bewusst wird. Doch sie ist mittlerweile mit dem Fürsten Gremin verheiratet und entscheidet sich in der finalen Aussprache trotz ihrer bleibenden Liebe zu Onegin für ihren Ehemann, sodass der Protagonist gebrochen zurückbleibt. Pjotr Iljitsch Tschaikowski hat Puschkins berühmten Versroman für seine Oper von 1879 im Wesentlichen auf diesen Plot verdichtet, der stetig um das Gefühl kreist, die eigenen Lebenschancen vertan zu haben.
Diesen Aspekt stellt auch der Regisseur Ansgar Haag in den Vordergrund seiner Wuppertaler Inszenierung. Dabei verlegt er die Handlung aus den 1820er bis 1830er Jahren in die Jahrhundertwende bzw. im dritten Akt – der sechzehn Jahre später spielt – knapp nach den Ersten Weltkrieg. Angesichts der zeitlosen Tragik der Geschichte geht Haag damit kein sonderliches Wagnis ein. Leider wird aber auch der Zweck nicht ganz klar: Dem Programmheft ist zu entnehmen, dass Haag eine Parallele zwischen dem russischen Frühkapitalismus und der Gegenwartsgesellschaft ziehen will. Das ist natürlich nicht völlig abwegig, erschließt sich aber kaum aus der Vorlage: Auch wenn der Charakter einer „Enzyklopädie des russischen Lebens“, der Puschkins Roman oft zugeschrieben wird, durchaus auf Tschaikowskis Oper übertragbar ist (er verwendet z. T. volkstümliche Melodien und Lieder), liegt der Fokus doch sehr stark auf den Individuen und der Darstellung ihrer emotionalen Empfindungen. Eugen Onegin ist nicht in erster Linie eine sozialkritische Oper – und so bleiben die gesellschaftskritischen Anspielungen der Inszenierung zu subtil, da man sie kaum an den Handlungsverlauf anbinden kann. So tauchen die Statisten, die als Revolutionäre im dritten Akt das Fest des Fürsten Gremin stürmen und Flugblätter verteilen, völlig unvermittelt auf und lassen das Publikum eher ratlos als angeregt zurück. Wie es dem Stück entspricht, haben sie auch keinerlei Einfluss aufs weitere Bühnengeschehen und verschwinden direkt wieder. Auch die Arbeiterschaft auf dem Landgut der Larins wirkt bei ihren Ernteliedern nicht unterdrückt, sondern (dem Duktus der Musik entsprechend) fröhlich. Wenn man sich schon entscheidet, die im Prinzip zeitlose Geschichte so direkt einzuordnen, hätte man mit etwas mehr Mut zum Risiko vielleicht auch mehr daraus machen können als eine entsprechende Bebilderung. Die Kostüme (Ulli Kremer), vor allem in der Festgesellschaft des dritten Akts, sind aber zugegebenermaßen eine Augenweide.
Wandel und Kontinuitäten des Lebens
Auch wenn die soziale Parallele zwischen dem frühkapitalistischen Russland und der Gegenwart nicht so deutlich ankommt wie wohl beabsichtigt, empfindet man im Publikum die Aktualität der Geschichte selbstverständlich trotzdem. Das liegt in erster Linie an der Sorgfalt, mit der sich der Regisseur den Figuren widmet und sie entsprechend der musikalischen Gestaltung als ambivalente Charaktere darstellt: So tritt Tatjana, die die ersten beiden Akte die größte Sympathieträgerin ist, als Fürstin im dritten Akt ihrem Mann Gremin gegenüber auffallend kühl, beinahe herablassend auf. Andersherum kann man auch Onegin, der sich zuvor zwei Stunden lang als überheblicher Lebemann aufgespielt hat, in seiner finalen Verzweiflung ernst nehmen und sogar ehrlich bemitleiden. Obwohl der Wandel der beiden Hauptfiguren deutlich herausgearbeitet wird, werden auch die großen Kontinuitäten deutlich: Tatjana steht am Ende genauso standhaft zu ihrer Ehe wie am Anfang zu ihrer Liebe zu Onegin, und Onegin ist, wenn er von der mittlerweile verheirateten Tatjana ohne weiteres fordert, ihr Leben für ihn zurückzulassen, genauso ich-bezogen wie wenn er die jugendliche Tatjana belehrt, er sei für die Ehe nicht geschaffen und sie werde schon jemand anderen finden. Im Bühnenbild (Bernd-Dieter Müller und Annette Zepperitz) spiegelt sich diese Ambivalenz von Wandel und Kontinuität wider: So ändert sich zwar die Ausstattung vom Landhaus der Larins zum Fürstenpalast der Gremins, die Grundkonstruktion von schlichten blauen Wänden, die sich nach hinten verengen, bleibt aber gleich. Auch wenn Kleidung, Wohnort und sozialer Status sich ändern, kann man seiner persönlichen Grundkonstitution doch nicht entfliehen – dieser Gedanke scheint dabei im Hintergrund zu stehen und ist eine viel leichter nachvollziehbare Parallele als die sozioökonomische.
Überzeugendes Ensemble
Dass man die Figuren mit all ihren Facetten ernst nehmen kann, liegt natürlich auch am Ensemble, angeführt von Mikolaj Zalasinski, der Onegins Wandlung vom arroganten Dandy zum vereinsamten und gebrochenen Mann nicht nur gesanglich, sondern auch schauspielerisch überzeugend darstellt. Mirjam Tola als Tatjana steht ihm dabei in nichts nach: Sie gestaltet sowohl die Schwermut und erste Liebe der jungen Tatjana als auch die Standhaftigkeit und Reife der Fürstin stimmlich souverän und wirkt in ihrem Spiel sehr ehrlich. So sind gerade die gemeinsamen Szenen von Tatjana und Onegin eindringlich gestaltet. Viola Zimmermann steht als unkomplizierte und fröhliche Schwester Olga, die sie durchaus engagiert verkörpert, zwar in deutlichem Kontrast dazu, fällt aber keineswegs ab. Mikhail Agafonov singt Lenskij bis auf kleinere Intonationsprobleme gekonnt und stellt ihn so authentisch dar, dass seine schwärmerische Liebe, seine Eifersucht und sein Tod im halbherzig ausgeführten Duell eindrücklich im Gedächtnis bleiben.
Auch die kleineren Rollen der Mutter Larina und der Amme Filipjewna sind mit Manuela Bress und Anna Maria Dur hervorragend besetzt: Die Eingangsszene, in der die beiden Frauen sich über ihre tristen Lebensläufe unterhalten, ist ein wunderbarer Anfang für den Opernabend. James Woods kurzer Auftritt als Triquet ist – nicht nur durch die detailgenaue Inszenierung als Zauberkünstler – ein kleines Highlight. Insgesamt liegt in der Ausgestaltung solcher zwischenmenschlichen Begegnungen und kurzen Szenen eher die Stärke dieser Inszenierung als im Entwurf eines großen Gesamtkonzepts. Während Andreas Hörl der einzige im Ensemble ist, der stimmlich ein klein wenig abfällt und manchmal nicht ganz souverän wirkt, ragen Oliver Picker und Mario del Rio auch in den kleinen Partien des Saretzkij und eines Hauptmanns positiv heraus. Der Chor (Einstudierung: Jens Bingert) singt ausgesprochen präzise und vielseitig und tritt sehr spielfreudig auf.
Nicht zuletzt spielt das Sinfonieorchester Wuppertal unter Toshiyuki Kamioka sowohl in den leisen, introvertierten Passagen als auch in den großen Gefühlsausbrüchen ausgewogen, differenziert und klangschön. Die Balance innerhalb des Orchesters, aber auch zwischen Graben und Bühne ist ausgezeichnet, sodass Tschaikowskis Konzept, mittels Musik die Psyche seiner Figuren auszuleuchten, voll zum Tragen kommt. Die Begeisterung des äußerst wohlwollenden Publikums in Wuppertal ist hier absolut berechtigt.
Dass die Inszenierung hinter der Intensität des tragischen Stoffes und der Musik etwas zurückbleibt, muss einen nicht zwangsläufig unbefriedigt zurücklassen: Denn zuletzt hat man zwar das ästhetische Bühnen- und Kostümbild sowie die Musik genossen, kann aber auch ohne emotional völlig aufgewühlt worden zu sein das Opernhaus wieder verlassen. Die Aktualität der so zentralen Langeweile am Leben und der Erfahrung, wie unplanbar gerade die großen Gefühle sind, überträgt sich damit durch die Inszenierung und wirkt im besten Sinn ansteckend: Am Ende kann man sich durchaus die Frage stellen, wie viel Onegin in einem selbst steckt.
Informationen zur Inszenierung
Nächste Vorstellungen:
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