Das kalte Herz der Stadt

Fuminori Nakamura: Der Dieb Cover: Diogenes

Fuminori Nakamura: Der Dieb Cover: Diogenes

Mit Der Dieb erscheint erstmals ein Werk des japanischen Erfolgsautors Fuminori Nakamura in deutscher Übersetzung. Ein spannender Krimi, ein magisches Märchen und ein bitteres Gesellschaftsportrait.

von ANNA KREWERTH

Tokio kann ein trostloser Ort sein. Es ist kalt und klamm, es regnet ohne Unterlass. In einem Moment erscheint alles schrill und laut, durchflutet von gleißendem Licht, im nächsten ist es dunkel und totenstill. Auf der einen Seite stehen die Wohlhabenden, die Sorgenfreien und Glückseligen. Doch der Roman zieht den Leser auf die andere, die Schattenseite. Hier schlägt das Herz des Diebes, es klopft, es wummert, es schmerzt – es gefriert. All sein Erleben ist durchzogen von Ambivalenzen: Draußen ist es feucht, doch seine Kehle ist trocken. Es ist kalt, doch er schwitzt. Er ist hoch konzentriert, und doch stiehlt er mitunter, ohne es zu bemerken. Die Zielscheibe dieses Einzelgängers, der Zentralgestalt im Gefüge von Langfingern, Huren, Streunern und Mördern, sind die Reichen – so wie es ihn sein Mentor Ishikawa gelehrt hat. Doch ein Robin Hood ist der Dieb, dessen richtiger Name, Nishimura, nur ein einziges Mal fällt, wahrlich nicht. Denn erst als er sich des Schicksals eines Jungen annimmt, scheint sein bislang vertanes Leben einen Sinn zu bekommen. In die Fänge der Yakuza geraten, steht jedoch gerade dieses plötzlich auf dem Spiel.

Schlichte Sprachgewalt

Nakamuras Sprache ist klar und einfach. Mit nur wenigen Worten errichtet er Kulissen des Elends und der Einsamkeit, gleichwohl pulsierend vor Lebensenergie:

»Im Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden weißen Autos verwandelte sich der Sprühregen in ein Feuerwerk aus gleißenden Goldpartikeln. Mir war, als würden Nadeln vom Himmel fallen, die unbarmherzig in die Haut stachen.«

In den Kleinigkeiten zeigt sich die große Sprachkunst des 1977 geborenen Japaners, der nicht zu Unrecht mit Haruki Murakami verglichen wird. Nicht zuletzt liegt das an Nakamuras Fähigkeit, geschickt Einfaches in Rätselhaftigkeit zu kleiden und ihm etwas Magisches zu verleihen: Da ist der mysteriöse Stahlturm, der dem Dieb immer und immer wieder erscheint. Ist er eine Vision, Illusion oder Erinnerung? Warnung oder Verheißung? Was hat es mit dem Jungen auf sich, einem exakten Wiedergänger des Ich-Erzählers, angefangen bei seiner äußeren Erscheinung über die Art, sich zu bewegen, bis hin zum manischen Beinkratzen? Und wie kommt es, dass die markante Narbe des Gangsterbosses Kizaki so einfach verschwindet?

Kafka, Borges und der Film noir

Literarische Einflüsse im Text Nakamuras stammen – wie bei Murakami – aus den Werken Kafkas und Dostojewskijs, den er teilweise auch als klare Referenzgröße integriert. Unweigerlich drängt sich der Vergleich zu Borges’ labyrinthisch verworrenen Kriminalgeschichten auf. Und etwas Cineastisches hat das Erzählte ebenfalls: Vieles erinnert an den Film noir und an alte japanische Gangsterfilme. Dennoch zeichnet den Roman eine Eigenheit aus, die ihm den Kenzaburō Ōe Preis einbrachte und den internationalen Ruhm Nakamuras begründete. Vom Wall Street Journal wurde Der Dieb unter die besten zehn Bücher des Jahres 2012 gewählt. Auch das deutsche Feuilleton nahm den sechsten Roman des Autors ausnahmslos positiv auf. Dass die Kritiker zumeist die Genrebezeichnung »Krimi« gewählt haben, lenkt die Leseerwartung jedoch in falsche Bahnen. Denn sicherlich geht es um Verbrechen, Morde und Gangsterbanden, doch eben noch um einiges mehr. Geradezu philosophisch und sozialpolitisch könnte man diesen Roman nennen, wenn er die Kluft zwischen Arm und Reich thematisiert oder die Frage nach dem Schicksal des Einzelnen stellt, welches allzu oft am dünnen Faden sozialer Umstände hängt.

Verheißungsvoll

Die Figuren, allen voran der Dieb, werden von Nakamura auf minimalistische und indirekte Weise porträtiert. Dennoch reichen die spärlichen Äußerungen, Gedanken oder die Schilderung simpler körperlicher Empfindungen des Helden aus, ein sehr komplexes Bild von ihm zu zeichnen. Absolut bemerkenswert ist, wie mit vollkommen unaufgeregten Sätzen eine Atmosphäre permanenter Spannung geschaffen wird, ohne dass diese je effektheischend wirkt.

»Als wir aus der Unterführung herauskamen, erschienen mir die riesigen Gebäude, die Wolkenkratzer und Kaufhäuser, bedrohlich. Mich schauderte, und da erst bemerkte ich, dass ich unentwegt auf die mageren Gräser starrte, die sich durch den Beton zwängten.«

Fuminori Nakamura hat in Japan schon ein Dutzend Romane veröffentlicht. Von manchem Kenner wird nun die Titelauswahl für die erste Übersetzung ins Deutsche kritisiert: Der Nachfolgeroman Aku to Kamen no Rūru (ins Englische übersetzt als Evil and the Mask) von 2010 sei gelungener und hätte sich für ein deutschsprachiges Debüt des Autors eher angeboten, heißt es etwa. Dessen ungeachtet ist die Erschließung Nakamuras für die hiesige Leserschaft ein immenser Gewinn. Es bleibt zu hoffen, dass Thomas Eggenberg, der mit Der Dieb eine authentische Übersetzung vorgelegt hat, sich auch weiteren Werken des Schriftstellers annehmen wird.

 

Fuminori Nakamura: Der Dieb (aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg)
Diogenes Verlag, 211 Seiten
Preis: 22 Euro
ISBN: 978-3-257-06945-7

 

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