Sisyphosticated

VenusTransit_Cover_neu_WebHamed Eshrats Venustransit bringt Berliner Zeitgeist und alte Erzähltraditionen zusammen. Die erste umfassende Graphic Novel des deutsch-iranischen Künstlers überzeugt auf allen Ebenen.

von LINA BRÜNIG

Die Story von Venustransit ist nicht gerade neu: Ben lebt in Berlin, arbeitet bei einer IT-Firma, will eigentlich lieber zeichnen und führt eine etwas zu kuschelige Langzeitbeziehung. Diese beschauliche Unzufriedenheit wird beendet, als seine Freundin Julia sich eine Pause erbittet. Ben fällt in ein Loch, reist nach Indien, lernt die nette Imma kennen und kündigt seinen Job. Von da an verlässt die Geschichte glücklicherweise ausgetretene Rom-Com-Pfade und pfeift auf Vorhersehbarkeit. Ohnehin spielt der Berliner Alltag zwischen Späti, Szenecafé, Urban Art und Berghain eine ebenso große Rolle wie die miteinander verflochtenen Leben der Figuren.

Harter, zarter, eigenwilliger Bleistiftstrich

Die grafische Umsetzung der Handlung ist indes beeindruckend. Eshrat hat fast ausschließlich mit Bleistift gearbeitet und lässt dabei beinahe vergessen, dass es auch farbig-illustrierte Comics gibt. Sein Stil ähnelt ein wenig dem von Barbara Yelin, die im vorletzten Jahr mit Irmina reüssierte, ist aber gleichzeitig eigenständig und angenehm verspielt. Auf jeder Seite springen einem interessante und ästhetisch stimmige Einfälle entgegen, bei denen sich oft der Einfluss anderer Medien zeigt: In alter Kafka-Tradition erblickt Ben nach einer harten Nacht eine riesige Schabe im Spiegel, die ihn auffordert: „Los, geh malochen!“. Immer wieder bestehen Panels aus Seiten von Bens Notizbuch, durch das sich leitmotivisch eine Sisyphos-Figur zieht, die sich mit dem Rollen eines großen Knäuels abrackert. An Nick Hornbys High Fidelity erinnert hingegen der Einsatz von Songtiteln und Liedtexten, die immer wieder auftauchen. Damit gelingt Eshrat ein stimmiges Bild des deutschen Großstadtlebens – mal recht plakativ, mal fein und detailreich beobachtet: So bringt er etwa ganz beiläufig die wie Pilze aus dem Boden sprießenden öffentlichen Bücherschränke unter. Und als echter Berliner Hipster benutzt Ben natürlich ein ökologisch korrektes Fairphone. Visuell besonders beeindruckend ist die Darstellung von Bens Reise nach Indien: Hier bekommt man sein Skizzenbuch mit gezeichneten Reiseeindrücken vorgelegt, das vor Kreativität und schrägen Ideen überquillt – und fast keinen Text enthält.

Ein Hauch von Gesellschaftskritik

Durch seinen genauen Blick auf die Dinge bleiben Eshrat gesellschaftliche Missstände nicht verborgen. Und so durchweht Venustransit ein Hauch von Gesellschaftskritik, besonders im Handlungsstrang um Bens berufliche Perspektiven. Er ist ein zwischen ödem Brotberuf und künstlerischem Drang Zerrissener – darauf verweist auch die Parallelisierung mit Sisyphos und dessen Interpretation durch Albert Camus, der die griechische Sagengestalt als unerschütterlichen Streiter gegen die Absurdität des menschlichen Daseins porträtiert hat. Auch Ben findet am Ende seinen Frieden mit der scheinbaren Sinnlosigkeit seines Berliner Bohème Lebens, wagt mit einer öffentlichen kreativen Aktion die Revolte gegen die vermeintlich unumstößlichen Gesetze des Neoliberalismus und findet – ganz im Camus’schen Sinn – zu Solidarität und Mitmenschlichkeit.

Hamed Eshrat ist mit Venustransit ein beeindruckendes erzählerisches Debüt gelungen, das sich anmutig zwischen persönlichen Dramen und großen gesellschaftlichen Fragen bewegt und die Verbindung zwischen Sehapparat und Gehirn mit seinen berauschenden Zeichnungen in freudige Erregung versetzt.

 

Hamed Eshrat: Venustransit
Avant Verlag, 255 Seiten
Preis: 24,95€
ISBN:
978-3-945034-33-0

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