Das streitbare Klassenzimmer

"Nathan der Weise" an den Bonner Kammerspielen Foto: Thilo Beu

“Nathan der Weise” an den Bonner Kammerspielen Foto: Thilo Beu

Volker Löschs Inszenierung von Lessings Nathan der Weise in den Bonner Kammerspielen provoziert mit Gewaltausbrüchen und verbaler Konfrontation – und begeistert durch den Chor aus zwölf jungen Muslimen, die Nathan bei Weitem überstrahlen.

von NINA BLÄSIUS

Eine Schweigeminute für die Opfer der Anschläge von Paris – aber keine für die Opfer von Beirut. So beginnt die Auseinandersetzung zwischen dem Lehrer (mit der Körperspannung eines Sprinters kurz vor dem Startschuss: Glenn Goltz) und seiner muslimisch geprägten Klasse in der neu hinzugefügten Rahmenhandlung zu Nathan der Weise. Die zwölf jungen Schüler fordern ein Ende der Fixierung des Westens auf sich selbst, auf die ausschließliche Würdigung von westlichen Opfern, auf die angebliche Überlegenheit des Abendlandes. Der Lehrer zitiert daraufhin Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen an und wirft einen Karton von Reclam-Ausgaben zu Lessings Nathan der Weise wie Konfetti in das Klassenzimmer.

Volker Lösch inszenierte 2014 schon Waffenschweine am Theater Bonn, ein großer Publikumserfolg und eine politische Abrechnung mit der gerade in Bonn starken Szene der schlagenden Studentenverbindungen zwischen Alkoholexzess und Nationalstolz. Und auch dort wurde bereits deutlich: Die subtilen Untertöne sind nichts für ihn. Er möchte sein Publikum durch Tabubrüche und Holzhammer-Pädagogik schocken und aufrütteln: Es ist eine sehr aggressive Inszenierung von Nathan der Weise, mit Massaker und Maschinengewehrfeuer, mit Bombeneinschlag, mit einem nachgestellten Daesch-Video (warum in diesem Artikel Daesch statt ISIS verwendet wird, kann hier nachgelesen werden) inklusive umgeschnallter Sprengstoffsätze und angedeuteten Massenvergewaltigungen. Das ist anstrengend und wäre schwer zu ertragen – wenn es mit dem Chor aus zwölf jungen muslimischen Deutschen nicht gelungen wäre, eine klare und authentische Gegenstimme zu schaffen.

"Nathan der Weise" an den Bonner Kammerspielen Foto: Thilo Beu

“Nathan der Weise” an den Bonner Kammerspielen Foto: Thilo Beu

Wenn Reclam-Heftchen zu Geschossen werden

Die zwölf jungen muslimisch geprägten Bonner haben ihre Texte selbst geschrieben und das ist ein Segen: Es gibt diesem Chor eine Unmittelbarkeit und Verständlichkeit, die das Publikum schon zu Beginn mit mitfühlendem Lachen (beim schülertypischen Aufstöhnen ob des klassischen Stoffes, den der Lehrer mit Begeisterung anzukündigen versucht) und am Ende mit stehenden Ovationen belohnt. Wenn die Schüler die Reclam-Hefte benutzen, um ihren Lehrer zu bewerfen und ihrem Frust Platz zu machen, wenn sie in immer wechselnden Gruppierungen von ihren Lebenswelten erzählen und sich auf einer Bühne endlich selbst eine Stimme geben können, entsteht ein direktes Verständnis, das Nathan der Weise ohne diese zusätzliche Rahmenhandlung wohl nicht hätte herstellen können.

Wie konzentrische Kreise um die Ringparabel herum angeordnet sind die Kernhandlung von Nathan, seiner Tochter Recha und dem Sultan Saladin sowie die Rahmenhandlung im Bonner Klassenzimmer und die Probleme, die den Alltag der jungen muslimischen Deutschen bestimmen. Denn daran, dass es sich um ein Bonner Klassenzimmer handelt, kann keinerlei Zweifel bestehen: Volker Lösch ist nicht nur für seine Tabubrüche bekannt, sondern auch für seine starken lokalen Bezüge. Die zunehmende Dichte an Burka-Trägerinnen in Bad Godesberg wird genauso kommentiert wie der Prozentsatz an Schülern in Tannenbusch, die mit dem Salafismus sympathisieren, und die Silvesternacht in Köln.

Hinter all diesen aktuellen Bezügen und der konkreten Lebenswelt des muslimischen Chors verblasst die Geschichte von Nathan zusehends. Bernd Braun spielt den weisen Patriarchen zwar mit ruhiger Ehrwürdigkeit, doch schon das Bühnenbild (Bühne und Kostüme: Cary Gayler) muss den Nathan quasi gewaltsam in das Klassenzimmer integrieren: Wie ein Keil schiebt sich die gelbe Eckbühne, auf der das Lessingsche Stück fast ausschließlich stattfindet, in das buchstäblich zerrissene Klassenzimmer und greift so wieder die gelben Reclam-Hefte auf, die am Anfang des Stückes zu Wurfgeschossen wurden.

Hello-Kitty-Burkas und die Frage nach der Individualität des Einzelnen

In den letzten Szenen des Stückes zeigen sich noch einmal die Widersprüche dieser Inszenierung: Bunte Burkas finden zum Tanz zusammen, Hello-Kitty-Burka tanzt neben Deutschlandfahnen-Burka. Und doch strahlen sie eine geisterhafte Bedrohung aus und verschlucken den Lehrer in ihrer Mitte schließlich ganz.

Und die große Frage bleibt: Wenn der Chor aus jungen muslimischen Deutschen in den letzten Minuten des Stückes artikuliert, wie sehr sie sich danach sehnen, als Individuen betrachtet zu werden, und nicht nur als Vertreter einer Religion, einer Weltanschauung, eines Stereotyps – warum sind es dann diese 12 jungen Menschen die im Laufe des Stückes unzählige verschiedene Lebensgeschichten erzählen? Warum darf nicht jeder von ihnen ein konstantes Individuum darstellen, sondern wird zum Repräsentanten einer ganzen Generation, während ihr Lehrer Individuum ist und bleibt?

Volker Löschs Neuinszenierung strahlt durch ihre jungen Stimmen, kann jedoch nicht über den aggressiven Stil und einige Schwachstellen hinwegtäuschen.

 

Informationen zur Inszenierung
 
Nächste Vorstellungen
Mittwoch, der 24. Februar
Sonntag, 28. Februar
Donnerstag, der 03. März

 

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